Angstblüte (German Edition)
eine hofnahe Presse, daß die Hohenzollern in jeder Generation Talente, wenn nicht Genies vorzuweisen hätten. Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler. Was Fräulein Jaede gesagt hatte, fiel unter Majestätsbeleidigung.
Dieses Vergehen verjährte erst nach fünf Jahren. Fünf Jahre lang konnte jeder einen anzeigen, der etwas gesagt oder geschrieben hatte, was den Kaiser beleidigte. Die Kaiserin gab das Gnadengesuch der Musiklehrerin an Herrn von Levetzow, der schon Präsident des Reichstags gewesen war. Der fragte den Kaiser, ob Majestätsbeleidigungen nicht doch zu streng bestraft würden. Der Kaiser: Sobald er den richtigen Mann für den Kanzlerposten finde, müsse der ein Gesetz einbringen, das die Strafen für derartige Verräter verdoppelt. Von Levetzow wechselte das Thema. Den Sang an Aegir hat es also schon 1894 gegeben.
Bezeugt ist, daß der Kaiser im Mai 1894, begleitet vom Grafen Goertz, im Eulenburgschen Schloß Liebenberg die Salzwedeler Ulanen dirigierte. Die Militärkapelle spielte, und der Kaiser dirigierte, während die Gäste dinierten. Er dirigierte nicht nur den Marsch aus Aida und den Hohenfriedberger, sondern auch den Reitermarsch des Grafen von Moltke und seinen Sang an Aegir .
Der Großvater Kahn war schon zwei Wochen davor auf das Schloß Liebenberg befohlen worden, er mußte die Militärkapelle so trainieren, daß beim kaiserlichen Dirigat nichts passieren konnte.
Wie kam die Komposition zustande? Unser Großvater Friedrich Karl Kahn war Musiklehrer in Potsdam am Gymnasium und wohnte in einem Haus, in dem auch ein Kaiserlicher Kammerdiener wohnte. Friedrich Quentz hieß er. Der wurde wohl Zeuge, wie Seine Majestät am Klavier klimperte. Immer ohne Noten. Und nur mit einer Hand. Seine Linke war zurückgeblieben, war eine Kinderhand geblieben. Der Kaiser versuchte, das nicht merken zu lassen. Alle wußten es. Die einen schlossen sich der Erklärung an, die die Hebamme gab: Ein Nervenleiden der sehr jungen Mutter sei schuld. Die anderen machten die Hebamme für den Schaden verantwortlich. Die Hebamme hat den Frischgeborenen, der keinen Laut von sich gab, nach alter Hebammensitte mit einem nassen Handtuch geschlagen, bis er schrie; dabei habe sie das Ellbogengelenk ausgerenkt.
Der Kammerdiener Quentz machte eine Bemerkung. Er kenne, sagte er, einen hochbegabten Musiker, dem es eine Ehre wäre, Seiner Majestät Talent zu entfalten. So kam der Vorfahr ins Neue Palais. Was er dort erlebte, erzählte er daheim und in den Briefen an seine Schwester Mathilde, in Potsdam geboren, in Stuttgart verheiratet und süchtig nach Berliner Hofklatsch, wenn darin nur der von ihr verehrte Kaiser vorkam. Die Entstehung des Sangs an Aegir hat Friedrich Karl seiner Schwester in mehreren Briefen geschildert. Die Briefe haben sich bei den Nachkommen der Großtante Mathilde erhalten. Danach läßt sich sagen: Der Kaiser war dem Meer verfallen. Den Künstler Saltzmann ließ er das Meer wieder und wieder skizzieren und vollendete die Bilder und hielt sie für eigene und signierte sie. Aufführungen des Fliegenden Holländers besuchte der Kaiser nur in Admirals-Uniform.
Der Kaiser suchte auf dem Klavier eine Melodie zu finden, um die Geschichte des Seegotts Aegir zu erzählen. Aegir hatte seinen Sitz auf Læsø im Kattegat. Neun Wellenmädchen waren seine Kinder. Als der Gott Loki einmal Aegir besuchte, geriet er mit den neun Wellenmädchen in einen Streit, den er nicht überlebte.
Der Vorfahr schilderte der Tante, wie er mit der endgültigen Fixierung der auf dem Klavier gemeinsam ertasteten Melodie beauftragt wurde. Und zwar schilderte er, daß Auguste Viktoria wissen wollte, wie dieses Werk entstanden sei. Und er: Mit Eurer Majestät Erlaubnis wage ich daran zu erinnern, daß das feinste Gehör von uns allen Seiner Majestät eigen ist. Und wenn Eure Majestät mich nicht verraten, so fiel mir als untertänigstem Diener die Ehre zu, die allerhöchste Komposition aufzuzeichnen. Bei der Ausarbeitung des Notierten habe er sich durchaus inspiriert gefühlt von des Grafen Eulenburg Legende des Nordens und von den strömenden Tönen Edvard Griegs, den Seine Majestät ja auf seiner letzten Nordlandreise kennen- und schätzengelernt habe.
So weit war der Vorfahr im Jahr 1894. Dann infizierte er den Grafen Eulenburg, den engsten Freund des Kaisers, mit einer Idee. Eulenburg hatte dafür zu sorgen, daß es dem Kaiser nie langweilig wurde. In einem Schreiben eröffnete Friedrich Karl dem Grafen, daß der größte Maler der
Weitere Kostenlose Bücher