Angstblüte (German Edition)
Daß er sich nach dem Jagdausflug noch eine Woche mit Mandelentzündung ins Bett lege, das ging einfach nicht. Also rasch ins Zimmer und wenigstens trockene Socken und Schuhe angezogen, wenn schon die bis übers Knie hinauf nassen Hosen und Unterhosen blieben. Da alle außer ihm den Befehl des Kaisers mannhaft befolgt hatten, war er der letzte, der im Speisesaal erschien. Der Kaiser tat, als bemerke er das nicht. Aber das war das letzte Mal, daß er Friedrich Karl von Kahn bestellt hatte. Vom Grafen Eulenburg ist ein herzlicher Brief an den Großvater überliefert. Seine Majestät reagiere in solchen Situationen immer so lebhaft, wie nur das Genie reagieren könne. Übermäßig! In allem mehr als vorstellbar! Damit sei nun einmal Seine Majestät gesegnet. Manchmal könnten Unverständige meinen: Mehr geschlagen als gesegnet. Aber er, als Kenner, dürfe bezeugen: Gesegnet! Dann noch zum Trost: Seine Majestät befrage sich selber regelmäßig, ob diese und jene jähe Entscheidung Bestand haben solle oder zu revidieren sei.
Diese Entscheidung gehörte offenbar zu den nicht revidierten.
Der Großvater hat nicht gelitten darunter. Und sein Rektor war froh, den tüchtigen Pädagogen und Sänger wieder ganz für seine Schule zu haben. Unser Vater war bei Kriegsausbruch (so nannte man das) neunzehn Jahre alt und einundzwanzig, als er als «Kriegsfreiwilliger» eingezogen wurde, und dreiundzwanzig, als ihm vier Finger der linken Hand von einem Granatsplitter weggerissen wurden. Ich war achtzehn, als ich eingezogen wurde, auch als Freiwilliger. Ein paar Tage bevor ich einundzwanzig wurde, war alles aus.
Ich bin jetzt der Ansicht, daß es ohne den ersten Krieg das, was zum zweiten Krieg führte, nicht gegeben hätte. Weil der zweite Krieg in mein Leben hineingepfuscht hat und ohne den ersten Krieg nicht stattgefunden hätte, hat es mich interessiert, warum Wilhelm II. nicht gehindert werden konnte, dieses Reich in diesen Krieg hineinzuregieren.
Kein Mensch dürfte je begriffen haben, wie Wilhelm sein Kaisersein von Gottes Gnaden empfand und praktizierte. Ein konstitutioneller Monarch zu sein, einem Parlament, einem Kanzler entsprechen zu müssen, eine Verfassung zu respektieren, das blieb ihm fremd. Darüber konnte er, wenn er mit sich allein war, nur lachen.
Wilhelm II., das glaube ich erkannt zu haben, hat alles nur gespielt. Auch den Ernst. Auch den Spaß. Er hat die Krone vom Altar empfangen und seine Legitimität von Gott. Er war kein religiöser Mensch. Er hat den Religiösen gespielt, wie er das Gottesgnadentum und den absoluten Kaiser gespielt hat. Er war geschützt durch einen Wahn, der sich gerade noch so wirklichkeitsgerecht aufführen konnte, daß man dem von ihm Benommenen nicht in den Arm fallen konnte. So wie Don Quijote, als das Mittelalter vorbei war, den mittelalterlichen Ritter mit allem Drum und Dran gab, so gab dieser Wilhelm in einem aufgeklärten Zeitalter den Gottesgnadenkaiser. Nur, Don Quijote tobte sich auf dem Papier aus, Wilhelm im Marmorpalais, im Neuen Palais, im Stadtschloß, im Reichstag und als «Reisekaiser» jedes Jahr an einhundertfünfzig Tagen überall, von den nördlichsten Fjorden bis nach Jerusalem.
Herr Quentz, der Kammerdiener Seiner Majestät, war auch Vorgesetzter der Garderobiers des Kaisers. Er war verantwortlich dafür, daß Seine Majestät in jedem Augenblick jede der über dreihundert Uniformen, die in mehreren Sälen des Neuen Palais in Potsdam gepflegt wurden, abrufen und tragen konnte. Eine Kürassieruniform zum Beispiel bestand aus vierzehn verschiedenen Teilen. Daß Seine Majestät auf Reisen viermal am Tag die Uniform wechselte, muß nicht verwundern, aber auch zu Hause in Potsdam war damit zu rechnen, daß der Kaiser an einem Tag in vier oder fünf verschiedenen Uniformen erscheinen wollte. Das waren die Uniformen der Regimenter, denen der Kaiser mit irgendeinem Rang angehörte. Denen er neue Fahnen oder Kasernen stiftete und dann die jeweils fällige Rede hielt. In einer Extra-Abteilung wurden die ausländischen Uniformen gepflegt. Der Kaiser war vom Oberst bis zum Generalmajor und Feldmarschall Offizier in vierzehn ausländischen Armeen.
Als Rußlands Niederlage im Krieg gegen Japan perfekt war, telegraphierte er dem Zarenvetter «Waidmannsheil für das große Spiel». Der alte Moltke, das Militärgenie des Krieges anno 1870/71, seufzte: «Dekorativ ist die Losung des Tages. Übungen werden zu parademäßigen Theaterstücken.» Der Kaiser spielte dieses
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