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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Auftrumpfspiel bis zu einem tödlichen Ernst, den zu begreifen ihm seine Benommenheit ersparte. Verantwortlich fühlte er sich, das hat er hörbar genug gesagt, nur dem Allmächtigen, von dem er die Krone empfangen hatte. An den er keine Sekunde lang geglaubt hat, wie ein religiöser Mensch an Gott glaubt. Gott, das war die allerhöchste Figur im Spiel. Daß er selber ernstunfähig war, hat er weder geahnt noch gewußt, noch begriffen. Man hätte ihm in den Arm fallen müssen.
    Der Vorfahr kommentiert diese und jene Manie der Majestät durchaus witzig. Er bemerkt sogar, daß Wilhelm wahrscheinlich aus einer schwer erklärlichen persönlichen Unsicherheit von einer Uniform in die andere floh. Er hat durch den Kammerdiener den Text eines Telegramms erfahren, das Wilhelm an seinen Vetter, den Zaren Nikolaus, sandte, bevor sie sich auf der Zarenyacht trafen: «Welchen Anzug für Begegnung? Willy.» So unsicher war er. Es ist zuviel verlangt, vom Großvater zu erwarten, er hätte die Erhebung in den erblichen Adelsstand ablehnen sollen. Wir haben die drei Buchstaben in unserem Namen ja auch nicht gestrichen. Die Vergangenheit ist nicht abwählbar. Man vergesse nicht – und das macht diesen Wilhelm für heutige Vorgänge auf hoher Ebene musterhaft –: Wilhelm war beliebt. Heute würde man sagen: echt beliebt. Er wurde verehrt. Er war der erste Medienkaiser. Niemand in Europa, auch nicht Caruso, wurde so häufig, so feierlich und so phantastisch fotografiert wie der Kaiserdarsteller Wilhelm   II. Keiner wurde so ätzend oder so liebevoll karikiert. Das steigerte seinen Wahn, bestätigte ihn. Er brauchte Gott als höchste Kulissenzutat, die Massen, längst gottverlassen, brauchten ihn als Abgott. So jemandem in den Arm zu fallen wagt man in Deutschland nicht. Er war ein Megastar. Nichts anderes. Auch heute ist es undenkbar, einen Megastar daran zu hindern, seine Siege zu pflücken. Seine Zeitgeistsiege.
    Wie kommt das, daß wir solche bis zum Irrsinn unfähige Figuren, Figuren äußerster Unmöglichkeit, nicht loswerden ohne Krieg, ohne Gesamtkatastrophe? Die Kapelle im Eulenburg-Schloß Liebenberg heißt heute Libertas-Kapelle, weil Libertas, die Enkeltochter Eulenburgs, hier getraut und dann, 1942, von Hitlers Bande in Plötzensee hingerichtet worden ist, zusammen mit ihrem Mann Harro Schulze-Boysen, beide Widerstandskämpfer, organisiert in der Roten Kapelle. Die um Hitler herum haben sich viel schlimmer aufgeführt als die um Wilhelm herum.
    Die Sehnsucht der Deutschen nach durch keine Vernunft begrenzten Figuren. Selbst wenn das eine Sehnsucht aller Menschen sein sollte, so haben andere Länder doch verläßliche Hemmungen kultiviert, die uns fehlen. Hitler war der erste Mediendiktator, wie Wilhelm der erste Medienkaiser war. Verglichen mit Hitler darf man Wilhelm schuldunfähig nennen. Nach dem antiken Rom hat es, außer der deutschen, keine westliche Gesellschaft mehr zugelassen, daß sich einer zum Abgott machen lassen konnte und sich dann auch entsprechend benahm. Derjenige muß nur die jeweils neueste Technik der Selbstvervielfältigung so rechtzeitig, so früh benutzen, daß seine Person das technische Wunder selbst wird. Eine bis dahin unerhörte Allgegenwart. Dann funktioniert das. In Deutschland. Warum? Die Person im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
    Ich war immer Teil des Problems. Ich bin nicht selbständig geworden. Und unabhängig schon gar nicht. Ich verabschiede mich. Zu spät.
    Fritz Wunderlich ist, ich glaube, neununddreißig gewesen, als er im Jagdhaus eines Freundes die Treppe hinunterstürzte und starb. Das letzte, was ich hören werde, ist seine Stimme. Wenn er die Schubertlieder und die Schumannlieder singt, schreit er. Und das hat nichts mit Lautstärke zu tun. Seine Stimme schreit, weil er diese Lieder singt. Diese Lieder schreien, wenn sie richtig gesungen werden. Ich habe gewählt. Schumann – Wunderlich – Heine: Im wunderschönen Monat Mai. Mayday.
    Helen war zurück, kam hinauf, klopfte an, Karl sagte Ja, sie trat ein, sah ihn da sitzen, er fragte: Darf ich dir etwas vorlesen?
    Dann las er ihr alles vor, mußte aber Pausen machen, Atem holen, sonst hätte er nicht weiterlesen können.
    Als es ihm gelungen war, alles vorzulesen, schaute er wieder auf. Helen weinte. Sie weinte so leise, wie sie lebte.
    Dann sagte sie: Dieser ruhige Mensch.
    Karl sagte, er müsse der Schwägerin schreiben. Zum ersten Mal sagte er nicht Frau Lotte, sondern Schwägerin .
    In ihm stürmte es.

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