Angstfalle
Mitgefühl oder Gemeinschaftssinn keine Bedeutung mehr. Heute geht jeder seine eigenen Wege. Viele werden von Hass, Neid, Eifersucht oder krankhaften Trieben beherrscht. Dafür schalten Menschen Menschenleben aus. Als ich ein Kind war, galten andere Prioritäten.«
»Es ist Heiligabend im Jahr 2002!« Mit diesen bedeutungsvollen Worten betrat Martha das Zimmer. »Für den Fall, dass ihr das vergessen habt. Jetzt gehen wir ins Wohnzimmer, dort findet die Bescherung statt!«
Gespannt traten alle drei durch die von Kullmann geöffnete Doppelflügeltür. Anke war überrascht, wie groß das Wohnzimmer war. Es reichte von der Front bis zur Rückseite des Hauses. An der langen Wand gegenüber dem breiten Rundbogen brannte ein Kaminfeuer. Vor dem Kamin stand ein gemütlich aussehendes Ledersofa, links und rechts flankiert von zwei Sesseln, die mit einem Stoff aus warmen Farbtönen in Ockergelb, Beige und Braun überzogen waren. Die Wände waren in einem einfachen Cremeweiß gestrichen, das Fenster, das zur Straße zeigte, wurde von Bücherregalen eingerahmt, die bis unter die Decke reichten. Welche Bücher sich in den Regalen befanden, konnte Anke nicht erkennen, weil ein großer, bunt geschmückter Tannenbaum den Blick versperrte.
Feierlich begann Kullmann die Kerzen anzuzünden. Als der Baum im Glanze des Lichts erstrahlte, sang er so falsch, wie es kaum möglich war, das Weihnachtslied: Oh Tannenbaum!
Martha und Anke amüsierten sich köstlich, was ihn aber nicht davon abhielt, das Lied bis zum Ende zu singen.
»Nun wird es ein wenig peinlich für mich«, gestand Anke, als sie sich auf der gemütlich aussehenden Couch niederließ.
»Warum?«
»Ich habe keine Geschenke. Hatte keine Gelegenheit, einkaufen zu gehen.«
»Du wirst es nicht glauben, aber wir haben auch keine Geschenke«, lachte Kullmann. »Wir wollten dir ein Kinderbett schenken, aber deine Mutter kam uns zuvor.«
»Ihr habt mit meiner Mutter gesprochen?«
»Ja. Sie will dich heute Abend noch anrufen.«
»Oh«, mehr fiel Anke nicht dazu ein.
»Aber damit sind uns die Ideen natürlich nicht ausgegangen, welche Überraschung wir dir machen können«, verkündete Martha.
Anke wusste nicht so recht, wovon Martha sprach.
Kullmann zögerte nicht lange und erklärte es ihr: »In wenigen Tagen ist das Jahr zu Ende und dein Mietvertrag für deine neue Wohnung im Grumbachtalweg läuft an. Martha und ich wollen dir die Wohnung bezugsfertig einrichten, damit du nach der Entbindung deiner Tochter ein Zuhause hast.«
Anke war sprachlos.
»Deine Möbel lagern schon in der Garage. Die Kisten auf dem Speicher. Deine Eltern sind über unseren Plan informiert und wollen uns dabei zur Hand gehen. Du wirst ein schönes Zuhause vorfinden, wenn du mit deinem Kind entlassen wirst.«
Martha schaltete das Radio ein. Leise Weihnachtsmusik erfüllte den Raum.
Das Baby bewegte sich. Amüsiert hielt Anke ihre Hand genau an die Stelle, als wollte sie Zwiesprache mit ihrer Tochter halten. Ihr Glücksgefühl wollte sie gerne auf ihre Tochter übertragen.
Kullmann ließ sich auf einem Sessel nieder, der in dieser Einrichtung aus dem Rahmen fiel. Er war mit Plüsch überzogen und mit vielen Kissen in allen Formen und Farben überladen. Aber er schien sich wohl darin zu fühlen. Er arrangierte die Kissen so lange, bis er gemütlich saß.
Martha schob einen Sessel im Louis XIV-Stil direkt daneben, stützte sich gegen die hohe Lehne, um ihrem Mann näher zu sein. Als Anke das sah, hatte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihre Tochter in ein harmonisches Umfeld hineingeboren würde.
Später schlug Martha Anke vor, auf der Couch liegen zu bleiben. Gerne nahm sie dieses Angebot an, fühlte sie sich müde und erschöpft. Glücklich schlief sie ein, kaum dass Kullmann und Martha das Zimmer verlassen hatten.
6
Am ersten Weihnachtstag stieg Kullmann in seinen Wagen, um an der nahe gelegenen Tankstelle frische Brötchen einzukaufen. Im langsamen Tempo fuhr er durch die Kaiserstraße. Es herrschte wenig Verkehr. Eine geschlossene Schneedecke hatte sich über die Fahrbahn gelegt.
Die Araltankstelle war in den Halberg hineingebaut. Sie war die einzige Anlaufstelle für Menschen, die an Tagen wie diesen noch Lebensmittel brauchten. Und so kam es, dass viel Betrieb herrschte.
Als er endlich an die Reihe kam, erblickte er die junge Frau aus seiner Nachbarschaft. Ihr Gesicht wirkte blass, ihre blonden Haare zerzaust. Nun fiel ihm ihr Name ein. Sie hieß Beatrix Reuber. Seit
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