Angstfalle
dem Tod ihrer Eltern lebte sie ganz allein in dem großen Haus direkt neben dem Autofriedhof.
»Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage«, grüßte Kullmann die junge Frau.
Er spürte, dass sie etwas beschäftigte.
»Danke!« Mehr brachte sie nicht hervor.
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Selbstverständlich. Außer dass ich ungebetenen Besuch vom Schneemann mit der Sense bekommen habe, ist alles in bester Ordnung.«
»Ein Schneemann mit der Sense?«, wiederholte Kullmann ungläubig. »Habe ich richtig verstanden?«
»Oh ja«, bestätigte die junge Frau. »Ich kann machen, was ich will, er taucht immer wieder auf!«
»Verwechseln Sie nicht den Sensenmann mit dem Weihnachtsmann?«
»Ich weiß, wovon ich spreche!«
»Das hoffe ich für Sie.«
Hastig eilte sie hinaus.
Verwirrt durch das eigenartige Gespräch schaute Kullmann hinter ihr her, sah, wie sie vor der Tür auf ihr Fahrrad stieg und unsicher über die Schneeschicht davonradelte.
7
Der erste Weihnachtsfeiertag begann ruhig. Nach ihrer Begegnung mit dem Nachbarn, überlegte Trixi, warum sie sich so dämlich benommen hatte. Sie hätte dem netten Mann doch erzählen können, wie es um sie stand. Aber nein, sie hatte sich lächerlich gemacht.
Hätte es etwas genützt, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen?
Die Polizei hatte ihr nicht geglaubt. Warum sollte sich ein alter Mann, der die Feiertage mit seiner Familie feiern wollte, ihre Geschichte über einen Weihnachtsmann mit heruntergelassenen Hosen oder einen Schneemann mit Sense anhören?
Am Nachmittag rief Käthe an. Es wurde ein langes Telefonat.
Als sie auflegte, fühlte sie sich einsam.
Missmutig spazierte sie durch jedes Zimmer im Erdgeschoss. Die Enge bedrückte sie. Die Vorstellung, Käthe würde bei ihr einziehen, war verlockend. Aber bevor sie ihre Freundin fragte, musste sie sich darüber im Klaren sein, dass sie nicht umhin kam, die erste Etage wieder bewohnbar zu machen. Den Platz würden sie brauchen. Es gab im Obergeschoss genauso viele Zimmer wie unten. Warum sich also nicht die Zeit damit vertreiben aufzuräumen? Sie könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Alles entsorgen, was nur im Weg herumlag – womit sie gleichzeitig die Geister der Vergangenheit vertrieb.
Ihr Entschluss war gefasst. Sie sperrte die Tür zum Treppenhaus auf und stieg hinauf. Oben spürte sie einen eiskalten Luftzug. Warum war es hier so kalt? Als sie der Sache auf den Grund ging, sah sie, dass das Fenster des früheren Elternschlafzimmers offen stand. Erschrocken verschloss sie es wieder. Das Schloss war unversehrt, die Scheiben auch. Von außen konnte es niemand geöffnet haben. Diese Erkenntnis beunruhigte sie.
Zögernd ging sie weiter. In ihrem ehemaligen Kinderzimmer standen Möbel, Spielsachen, ein alter Plattenspieler und ein kompletter Musikschrank, der schon jahrelang nicht mehr funktionierte. Hinter diesem Unikum entdeckte Trixi eine Maske mit lachendem Gesicht und buntem Hut. Daneben lag eine rote Nase. Das war die Verkleidung für einen Clown, den ihr Vater immer gerne gespielt hatte, als sie noch klein war. Verträumt legte Trixi die alten Erinnerungsstücke auf den Musikschrank und kramte weiter.
Alle Zimmer waren überfüllt. Vielleicht konnte sie ja einiges bei Ebay verkaufen.
Bei jeder Bewegung wirbelte Staub auf. Diese Räume aufzuräumen, bedeutete eine Menge Arbeit. Aber sie wollte es angehen. Sie hatte viel Wohnfläche, warum sollte sie sie nicht nutzen und für sie nicht Verwertbares zu Geld machen?
Zufrieden mit ihrem Plan kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Dort war es wohlig warm. Es war gut, dass sie diesen Kontrollgang gemacht und das offene Fenster entdeckt hatte, denn sonst wäre einiges zerstört worden, was mit noch größerem Aufwand und vor allen Dingen mit Kosten verbunden gewesen wäre.
Der zweite Weihnachtstag begann mit einer bösen Überraschung.
Der Schneemann stand an der gleichen Stelle, wieder mit Zylinder, mit Sense durchbohrt und mit Rosenblättern dekoriert.
Dieses Mal musste sie Roland Berkes zuvorkommen und alles mit ins Haus nehmen. Sie eilte durch den Flur auf die Haustür zu, als das Telefon klingelte.
Neugierig und ängstlich hob sie ab. Es war Käthe. Trixi freute sich ihre Stimme zu hören und plauderte angeregt mit ihrer Freundin, wobei sie fast nur zuhörte. Sie selbst konnte wenig zum Gespräch beitragen. Käthe klang ausgesprochen munter und berichtete von einem Medikament, das bei ihr anscheinend wahre Wunder bewirkt hatte.
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