Angstfalle
Verbindung zu meinem Vater. Im Krieg gab es für die Soldaten bestimmte Marketenderwaren: Schnaps und Schokolade, und dreißig Zigaretten pro Kopf. Mein Vater gestand mir, dass das Rauchen ihm über die schlimme Zeit hinweghalf.« Langsam verbreitete sich der angenehme Duft im Raum. »Bei Kriegsende stieg er von Zigarette auf Pfeife um. Diese Pfeife hier war die letzte vor seinem Tod. Feierlich sprach er eines Abends aus, dass ich sie später bekommen sollte.«
Er nahm sie aus dem Mund und betrachtete sie von allen Seiten. Es war eine Tabakspfeife der Marke Lorenzo, aus Bruyère-Holz mit schwarzem, leicht geschwungenem Mundstück.
»Ich nehme sie nur zu besonderen Anlässen heraus. Weihnachten ist für mich so ein besonderer Anlass – und dieses Weihnachten mehr denn je.«
Anke war gerührt.
»Wenn ich mich an meinen Vater erinnere, fällt mir jedes Mal der Krieg ein«, begann er, nachdem er ganz in Rauch eingehüllt war. »Ich denke da an ein ganz bestimmtes Weihnachtsfest. Nach dem siegreichen Polenfeldzug wurden deutsche Truppen an der Westfront verstärkt, um die auf saarländisches Gebiet vorgedrungenen Franzosen hinter die Grenze zurückzutreiben. Mein Vater war darunter. Das erfüllte uns mit großen Hoffnungen, an den Feiertagen zusammen sein zu können. Doch leider kam es anders. Nach dem Erfolg der Deutschen kam der Befehl, die neuen Grenzen auf den Spicherer Höhen zu sichern. Das bedeutete, dass ihm die Nähe zu seiner Familie nichts nützte. Er musste dort oben bleiben. Er war einer der Soldaten, die Hitler zum Weihnachtsfest 1939 im Saarland besucht hatte. Das Ereignis fand in einem Westwallbunker statt, der später der Führerbunker genannt wurde.«
»Das war sicherlich ein denkwürdiges Ereignis.«
Kullmann zog an seiner Pfeife.
»Stimmt. Nur leider sollte mein Vater auch die andere Seite des Krieges kennen lernen. Auf dem Russland-Feldzug musste er viele Soldaten töten. Gleichzeitig hat er erlebt, wie seine Kameraden in seiner Nähe durch Gewehrsalven starben.«
Anke fröstelte. Sie schlang sich die warme Wolldecke enger um ihren Körper. Aber auf keinen Fall wollte sie, dass er aufhörte zu erzählen.
»Er tötete Menschen, gegen die er keinen Groll empfinden konnte, weil er sie nicht kannte. Die Erinnerungen daran machten meinen Vater fertig. Es gelang ihm nicht, sich Taten, die er auf Befehl Hitlers begehen musste, zu verzeihen!«
»War das der Auslöser, warum du zur Polizei gegangen bist?«
Kullmann schaute Anke eine Weile an und sagte dann: »Ich wurde am 22. August des Jahres 1939 geboren, kurz bevor der II. Weltkrieg begann. Zur gleichen Zeit wurde ein siebenjähriges Mädchen mit einem Lederriemen erdrosselt auf einem unbebauten Gelände im Stadtteil Saarbrücken-Malstatt aufgefunden. Mein Vater meinte, es könne kein Zufall sein, dass gerade ich, der ich zu einem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickte, als ein Kind gewaltsam zu Tode kam, zur Kriminalpolizei gegangen bin.«
»Ob es solche Schicksalsfügungen gibt?«
»Ich akzeptierte den Gedanken bereitwillig. Aber im Grunde genommen weiß ich schon lange, dass es andere Erlebnisse waren, die meine Kindheit prägten und die mein ganzes Denken und Handeln beeinflussten.«
Das Gespräch wurde immer interessanter.
»Im Jahr 1944 näherten sich die Amerikaner von der Normandie her über die Spicherer Höhen der Grenze zum Saarland. Die Linie der Westwallbunker, die dort an der Grenze entlanglief, wurde für die militärische Verteidigung Deutschlands erneut bedeutsam. Die Bewohner des Saarlandes, die nicht in den Krieg hinausgezogen waren, mussten Schanzen und Gräben ausheben, Leichen bergen und Verwundete versorgen. Meine Mutter war eine der Helferinnen. Da sie niemanden für ihre beiden Kinder hatte, mussten mein Bruder und ich mitgehen. Ich habe diese Bilder von den Toten, die durch Bombenangriffe oder Schusssalven zerfetzt wurden, noch heute im Gedächtnis. Das brannte sich in mein Gemüt. Schon damals spürte ich, dass ich mein Leben der Gerechtigkeit widmen wollte – als Kind vermutlich voller Hoffnung, in dieser Welt etwas verbessern zu können.«
»Wenn einem das gelungen ist, dann dir«, bemerkte Anke im Brustton der Überzeugung.
Kullmann schüttelte lächelnd den Kopf und meinte: »Während meiner langen Dienstzeit als Kriminalbeamter habe ich festgestellt, wie sehr sich die Menschen im Laufe der Jahre verändert haben. Die Motive für das gegenseitige Töten stimmten mich nachdenklich. Heute haben Worte wie
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