Angsthauch
sollen, das wusste sie, aber es war ein besonderer Anlass, und früher, mit Anfang zwanzig, hatten sie und Polly quasi Kette geraucht. In Gareths Gegenwart konnte sie sich zurückhalten, aber bei Polly war das etwas anderes. Der alten Zeiten wegen nahm sie ein Blättchen und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Danach saßen sie beide unter dem Regenschirm und rauchten.
»Das tut gut«, meinte Rose und blies den Rauch aus. »Ich hatte schon seit Ewigkeiten keine mehr.«
»In Griechenland rauchen sie alle«, sagte Polly. »Die nordeuropäische Scheinheiligkeit ist noch nicht ganz bis da unten vorgedrungen.«
»Vielleicht gleicht die mediterrane Ernährung die gesundheitlichen Nachteile des Rauchens ja wieder aus.«
»Kann sein«, meinte Polly. »Was für ein Scheißloch. Karpathos.«
»Unsinn, es ist einer der schönsten Flecken, die ich je gesehen habe«, widersprach Rose.
»Du hast absolut keine Ahnung«, sagte Polly. »Ein Scheißloch voller Ärsche. Oder ein Arschloch voller Scheiße. Ist ja auch egal, von mir aus können die da unten alle verrecken.«
»Aber –«
»Ach, Rose, hör gar nicht auf das, was ich sage. Ich hab … so meine Probleme.« Polly ließ ein schnaubendes Lachen hören und drückte ihre Kippe aus. »Ich muss pinkeln.« Sie knöpfte sich die Jeansjacke zu und lief die Böschung hinunter über den Parkplatz zur Tankstelle.
Rose blieb sitzen und sah ihr nach, wie sie über den glänzenden Asphalt davonhuschte. Sie wusste, dass Polly in Christos’ Familie keinen leichten Stand gehabt hatte, weil die eine griechische Frau für ihren Goldjungen vorgezogen hätte – oder wenigstens eine, die kein Exjunkie und Ex-rockstar war. Sein Tod hatte ganz offensichtlich nicht zu einer Annäherung geführt. Rose vermutete, dass das der Hauptgrund war, weshalb Polly zurück nach England hatte kommen wollen. Sie war immer schon schnell beleidigt gewesen und hatte beim geringsten Anlass die Beherrschung verloren. Nach einer empfundenen Kränkung konnte sie tage- oder wochenlang einen Groll hegen. Schlimmstenfalls sogar ein ganzes Leben.
Zum Beispiel gab es eine Frau – von der Polly stets nur als »die Tote« sprach –, die einmal etwas mit einem ihrer Ex-freunde gehabt hatte. Polly hatte geschworen, diese Frau, obwohl sie »sowieso nur ein wandelndes Gespenst« sei, mit dem Auto zu überfahren, sollten sich ihre Wege zufällig kreuzen. Dann würde sie noch mal über den Kopf ihrer Widersacherin zurücksetzen, bis sie es knacken hörte. Sie hatte sogar einen Song daraus gemacht: »Piss Redress«, der Titeltrack ihres zweiten Albums.
Meistens fand Rose diese schauerlichen Racheszenarien lustig. Polly malte sie bis ins kleinste Detail aus und verstand es, sie auf unterhaltsame Weise darzubieten. Aber gleichzeitig war da immer das ungute Gefühl, dass alles, was Polly von sich gab, womöglich wirklich ihren Gefühlen entsprach und es reine Glückssache war, dass sich die Situation, in der sie einen dieser Pläne tatsächlich hätte in die Tat umsetzen können, noch nicht ergeben hatte.
Ein- oder zweimal war auch Rose schon zur Zielscheibe von Pollys Zorn geworden, eine schreckliche Erfahrung. Rose konnte nicht damit umgehen, wenn jemand wütend auf sie war, und tat alles, um es zu vermeiden. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie sich oft mit Polly verglichen und festgestellt, dass sie selbst gar keine klaren Konturen besaß. Dass sie irgendwie unfertig war und ein wenig zu sehr darauf bedacht, sich der Schablone anzupassen, die ihre beste Freundin für sie entworfen hatte. Durch die Ehe mit Gareth und ihre zwei Kinder allerdings hatte ihr Leben an Schärfe und Klarheit gewonnen. Vermutlich war es in dieser Hinsicht nicht das Schlechteste gewesen, dass Polly über zweitausend Meilen weit weg gewohnt hatte. Überhaupt war Rose insgesamt davon überzeugt, dass ihr eigenes Leben gerade aufgrund ihres Harmoniebedürfnisses wesentlich sorgenfreier verlaufen war als das von Polly.
Aber die Lage, in der Polly sich nun befand, hatte nichts mit ihrer nachtragenden Art zu tun. Polly war das Opfer, das durfte Rose auf keinen Fall vergessen. Sie hatte vor kurzem ihren Mann verloren. Den Mann, der ihr aus großen Schwierigkeiten herausgeholfen und ihr das Fundament gegeben hatte, auf dem sie sich ein neues Leben hatte aufbauen können.
Polly tauchte im hell erleuchteten Türeingang der Raststätte auf. Vor der Fassade des McDonald’s wirkte sie denkbar fehl am Platz. Sie trat ins Freie und wurde vom
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