Angsthauch
Nahrung versorgen und ihnen dann ihre neue Bleibe zeigen. Sie war ein bisschen wütend auf Polly, weil sie ihr das mit Flossie nicht früher gesagt hatte, schob die Nachlässigkeit ihrer Freundin aber auf deren Erschöpfung und Trauer. Als sie auf der Autobahn waren, hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie sprechen konnte.
»Was habt ihr denn jetzt eigentlich für Pläne?«, wollte sie von Polly wissen.
Es kam keine Antwort. Rose blickte zur Seite und sah, dass Polly sich um ihren Sicherheitsgurt zusammengeringelt hatte und eingeschlafen war. Sie sah friedlich und unschuldig aus und mindestens zehn Jahre jünger. Rose wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu und musste prompt bremsen. Der Wagen vor ihnen war zum Halten gekommen, und es sah so aus, als stauten sich die Fahrzeuge ein gutes Stück vor ihnen.
Während sie darauf wartete, dass es weiterging, spürte sie, wie ihr Gefühl von Verantwortung gegenüber Polly und den Jungs immer stärker wurde. Ihre eigene Geschichte war mit der Pollys so eng verbunden, dass es schwer war zu sagen, wo die eine aufhörte und die andere begann. Rose war es gewesen, die Christos und Polly einander vorgestellt hatte, damals, als sie zusammen in Notting Hill gewohnt hatten, und umgekehrt hatte sie es Polly und Christos zu verdanken, dass sie mit Gareth zusammengekommen war.
Zu Beginn der Neunziger war Polly sehr erfolgreich gewesen. Mit ihrer ungeschliffenen, poetischen Musik stand sie ganz oben in den Indie-Charts und war der Schwarm junger Männer mit Khol-umrandeten Augen. Als Rose nach London kam, um ihre Lehramtsausbildung zu beginnen, mietete sie sich ein Zimmer in Pollys plüschigem Apartment in Notting Hill. Es war ihre wildeste Zeit. Polly war Roses Eintrittskarte in das glamouröse und aufregende London, zu dem sie als Grundschulreferendarin mit Mathematikstudium sonst niemals Zutritt gehabt hätte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mit Resten von Kokain im Blut – oder zu einer besonders denkwürdigen Gelegenheit sogar an der Nase – vor einer Klasse lärmender Erstklässler gestanden hatte. Als Pollys treue Begleiterin war sie allseits bekannt, und nicht selten tauchten Fotos von ihr, wie sie auf dem Rücksitz irgendeines Taxis saß, am Rande von Storys über Polly in Illustrierten auf.
Und dann ging alles den Bach herunter. Pollys viertes Album, eine Reihe schlichter, nur von Klavier begleiteter Songs, die mit zum Düstersten zählten, was sie je komponiert hatte, wurde einhellig verrissen. »Der Soundtrack zum Pulsadernaufschlitzen«, hatte ein Kritiker geschrieben. »Und das ist nicht als Kompliment gemeint.« Polly war zu dünnhäutig, um mit solchen Rückschlägen fertig zu werden. Sie fiel in ein tiefes Loch, und bald wurden Koks und Heroin, die sie beide zuvor gelegentlich konsumiert hatten, für Polly zur täglichen Notwendigkeit. Selbst auf der Höhe ihrer Gesundheit wirkte sie immer ein wenig elend, aber nun sah sie endgültig wie eine wandelnde Leiche aus. Ihre Haut wurde fahl und grau, ihre Beine sahen aus, als litte sie an Rachitis, die Haare begannen ihr auszufallen. Doch selbst in diesem erbärmlichen Zustand strahlte sie immer noch eine kindliche Sexualität aus, die Männer magisch anzog.
Rose, die mit Pollys neuen Freunden nichts anfangen konnte – Junkies ziehen Junkies an –, ging zum ersten Mal in ihrem Leben allein aus und begann sich einen eigenen Freundeskreis aufzubauen. Sie und einige ihrer Lehramtsanwärterkolleginnen hatten Anschluss an eine Gruppe älterer Kunststudenten vom Goldsmiths College gefunden, an dem sie alle studierten. Sie genoss ihre Gesellschaft. Während der Semesterferien verbrachten sie ganze Nachmittage in verrauchten Pubs in New Cross und diskutierten, von unzähligen Gläsern Red Stripe angeheizt, über Minimalismus, Strukturalismus und die Postmoderne. Rose war fasziniert von der konzeptualistischen Kunstauffassung der jungen Männer, auch wenn sie sich nicht recht vorstellen konnte, wie sie solche Theorien in ihrer künstlerischen Arbeit umsetzen wollten. Es war ein Thema, dem sie bis heute mit ebenso viel Unverständnis wie Ehrfurcht gegenüberstand.
Mit ihren von der Arbeit rauen Händen, den farbbeklecksten Dock Martens und dem manischen Zigarettendrehen verkörperten die Kunststudenten ein romantisches Ideal. Christos war ihr gleich zu Beginn aufgefallen, und es dauerte nicht lange, bis er sie fragte, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm in ein kleines griechisches Lokal
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