Angsthauch
Land: Bis zu dem Überfall in Hackney hatte es ihr nichts ausgemacht, sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Stadt zu bewegen, auch wenn sie natürlich vorsichtig gewesen war. Aber vor der Finsternis der ländlichen Nacht hatte sie sich zeit ihres Lebens zutiefst gefürchtet. Jetzt, in diesem Augenblick vor Gareths Atelier, wurde ihr das zum ersten Mal seit dem Umzug wieder bewusst. Einmal, vor langer Zeit, noch bevor Anna geboren wurde, war Gareth mit ihr zu einem Kurzurlaub in ein kleines Cottage in Nordwales gefahren. Das Cottage hatte an einem See gelegen, der tagsüber wunderschön blau war und von einer Brise aus den Bergen leicht gekräuselt wurde. Nachts jedoch hatte er für Rose urplötzlich etwas Bösartiges angenommen. Eines warmen, ruhigen Abends hatte Gareth sich eine Decke unter den Arm geklemmt und vorgeschlagen, gemeinsam zum See hinunterzugehen. Rose hatte in dem frühen Stadium ihrer Beziehung ihre Ängste nicht offenbaren wollen und war mitgegangen. Auf dem Weg zum Wasser hatte Gareth in bester Country-Manier »Blanket on the Ground« gesungen, aber obwohl er bei ihr gewesen war, hatte Rose auf halbem Weg plötzlich den übermächtigen Drang gespürt, sich in den Schutz eines Gebäudes zu flüchten. Sie hatte nichts dagegen tun können, ihre Füße hatten sie wie von selbst in die andere Richtung gelenkt, sie war den Pfad zurückgerannt, im Gras ausgerutscht, über Wurzeln und Steine gestolpert und hatte erst angehalten, als sie wieder im Cottage war und überall das Licht angeschaltet hatte.
Denselben Drang verspürte sie auch jetzt, in ihrem eigenen Garten. Sie drehte sich um und floh zurück zum Haus, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie dabei vielleicht Lärm machte. Auf der Terrasse aus Sandstein fiel sie hin und schürfte sich das Schienbein auf, ließ sich dadurch aber nicht aufhalten. Sofort war sie wieder auf den Beinen und stürzte auf die Hintertür zu.
Sie stolperte in die Küche und knallte die Tür zu, dann ließ sie sich mit dem Rücken dagegenfallen. Sie keuchte und wusste gar nicht, wie sie so schnell ins Haus gekommen war. Ihr Blick schweifte über den Abfall in der Küche, die bis vor kurzem noch ihr Reich gewesen war, aber sie hatte keinerlei Bedürfnis, ihn wegzuräumen. Stattdessen empfand sie eine Art Resignation, die schon an Erleichterung grenzte. Sie suchte den Küchentresen ab und entdeckte Gareths Kaffeedose. Sie öffnete sie und sog den warmen Duft ein. Die Dose war leer und wartete darauf, dass jemand sie auffüllte.
Ihr kam eine Idee. Eine Art Plan, wie sie endlich den Beweis antreten konnte. Entschlossenen Schrittes ging sie zum Kühlschrank, um die luftdicht verschlossene Tupperdose herauszuholen, in der Gareth seine spezielle Bohnenmischung aufbewahrte. Amerikaner sind so eigen mit ihrem Kaffee, dachte sie. Sie nahm Gareths wunderschöne alte Kaffeemühle, schüttete die Bohnen oben in den Trichter und stellte die Dose darunter, um das Pulver aufzufangen. Dann schlüpfte sie in die Kammer und stieg auf einen Hocker, um an das schwer erreichbare oberste Regal zu gelangen, wo sie ihre Medikamente aufbewahrten. Nach Flossies Geburt hatte Rose Hämorrhoiden gehabt, die so schlimm gewesen waren, dass sie beim Hinsetzen den Stuhl noch vor ihrem Hinterteil berührt hatten. Da sie des Stillens wegen keine Medikamente hatte einnehmen wollen, war sie zu einem Naturheilkundler gegangen, der ihr ein Fläschchen dunkelgrüne Tabletten mitgegeben hatte. Die hatten allerdings eine derart durchschlagende Wirkung auf ihren Darm gehabt, dass sie nur eine einzige genommen hatte. Den Rest hatte sie in der Medizinkiste verstaut.
Nachdem Rose die Flasche gefunden hatte, kletterte sie wieder vom Hocker herunter und tanzte förmlich durch die Küche zur Kaffeemühle. Die Tabletten hatten einen bitteren Chlorophyll-Geschmack, aber sie spekulierte darauf, dass ein Raucher wie Gareth, der seinen Kaffee gern stark und bitter trank, nichts davon merken würde. Sie kippte etwa drei Viertel der Flasche in den Trichter der Kaffeemühle und drehte an der Chromkurbel. Während des Mahlens rüttelte sie die Kaffeedose hin und her, damit sich das dunkelgrüne Pulver der Pillen mit dem braunen Kaffeepulver vermischte.
Als sie fertig war, stellte sie die Kaffeedose ganz oben auf das Regal der Anrichte, hinter Annas Eierkorb. Sie hatte das Gefühl, dass sie noch einmal über ihren Plan schlafen musste, bevor sie ihn auf die nichtsahnenden Opfer losließ. Die Pillenflasche stellte
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