Angsthauch
Argumentation dadurch erschwert, dass sie bestimmte Sachen nicht in Gareths Gegenwart ansprechen konnte. Es gab Dinge, über die Polly Bescheid wusste und er nicht, und Rose wollte, dass es so blieb. Allerdings schien er sich der unterschwelligen Spannung gar nicht bewusst zu sein. Er saß weiterhin da, hielt ihre Hand und lächelte, wobei er, wie sie fand, ein bisschen wie ein Zombie aussah. Oder ein Besessener.
»Jetzt sei doch nicht albern«, fuhr Polly fort. »Wir fahren einfach nur in unsere alte Heimatstadt, besuchen ein paar Freunde, gehen mit den Kindern zum Pier und ins Sea Life Centre, machen eine Tour durch unsere alten Pubs, und dann fahren wir wieder nach Hause. Was ist schon dabei? Die Jungs sind ganz aus dem Häuschen, und Anna haben sie mit ihrer Begeisterung auch schon angesteckt.«
»Aber wo wollen wir denn übernachten?«
»Lucy hat Platz genug, ihre zwei Ältesten sind ja jetzt aus dem Haus.«
»Lucy?«
»Du weißt schon – Lucy Gee. Groß, dünn, rote Haare. War mit uns zusammen auf der Schule. Ist schwanger geworden, abgegangen und hat dann ganz jung geheiratet. Nach dem vierten Kind hat ihr Mann sie schließlich sitzenlassen, das Schwein. Aber das ist schon Ewigkeiten her, und ihre Kinder sind mittlerweile ziemlich groß. Sie darf das Haus behalten, bis das letzte Kind auszieht, das heißt, sie hat jede Menge Platz. Wir haben die ganze Zeit über in ziemlich engem Kontakt gestanden, sie und ich.«
Rose war erstaunt über diese Neuigkeit und fragte sich, warum es Polly dann nicht in den Sinn gekommen war, sich nach Christos’ Tod an Lucy zu wenden, statt sich ihr und Gareth aufzudrängen.
Rose schloss die Augen. Natürlich wusste sie noch, wer Lucy war. Wie hätte sie das vergessen sollen? Allerdings hatte sie nicht gewusst, dass Lucy und Polly sich besonders nahegestanden hatten. Sie selbst war ganz sicher nicht mit Lucy befreundet gewesen. Sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, neben Polly noch andere Freundinnen gehabt zu haben. Aber andererseits war ihr Gedächtnis auch nicht gerade das zuverlässigste. Es gab ganze Abschnitte ihres Lebens, die sie komplett aus ihrer Erinnerung getilgt hatte.
Nichtsdestotrotz war eine Reise nach Brighton das Letzte, worauf sie Lust hatte. Dort war alles zu persönlich, zu nah an der Schmerzgrenze. Aber ihr blieb wohl keine Wahl. Sie saß zwischen Gareth und Polly mit ihren strahlenden Gesichtern, und es gelang ihr einfach nicht, nein zu sagen. Die Pläne für die Reise schienen bereits so endgültig, dass man sich gar nicht mehr vorstellen konnte, sie würde nicht stattfinden.
Bei allem, was Polly über Rose wusste, war dies eine sehr zweifelhafte Freundlichkeit, die sie ihr erwies.
»Jetzt müsst ihr zwei aber Platz machen.« Anna war mit dem Kätzchen im Arm zurückgekehrt. Sie kletterte aufs Bett. »Ich will Mum für mich haben.«
Gareth lächelte und strich Rose übers Haar. »Gute Nacht, Schatz. Nacht, Floss, Nacht, Anna.« Er beugte sich vor und gab nacheinander allen dreien einen Kuss. »Komm, Poll, die Mädels brauchen ihren Schlaf. Und ich nehme den kleinen Monkey.« Er nahm Anna das Kätzchen ab und ging zur Tür, wo er auf Polly wartete.
»Gute Nacht, Rose.« Polly küsste sie auf die Wange, dann stand sie auf und folgte Gareth aus dem Schlafzimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte Rose, wie sie über etwas lachte, das er gesagt hatte.
Anna kuschelte sich neben sie und zog sich die Bettdecke über die Schultern.
»Puh, Mum. Ganz schön stinkig.«
35
R ose konnte nicht schlafen. Sie lag schweißgebadet zwischen den heißen Körpern ihrer Töchter und musste dringend zur Toilette. Schließlich setzte sie sich auf und kletterte mit gegrätschten Beinen vorsichtig über Flossie hinweg, um sie nicht aufzuwecken. Es war erst das dritte Mal innerhalb der letzten zwei Tage, dass sie aus dem Bett aufstand, und sie musste kurz innehalten, damit das Blut wieder in ihren Kopf zurückfließen konnte. Ihre nackten Fußsohlen zogen sich zusammen, als sie mit dem kalten Dielenboden in Berührung kamen. Sie stand schwankend mitten im Raum und wartete darauf, dass die schwarzen Punkte vor ihren Augen verschwanden.
Im Haus herrschte vollkommene Stille. Sie hatte den Wecker auf Gareths Bettseite gesehen. Es war drei Uhr morgens. Sie musste also doch geschlafen haben. Sie ging auf die Toilette, dann nahm sie ihren Kimono vom Haken und schlüpfte hinein. Sie fühlte sich ein kleines bisschen leichter als noch vor wenigen Tagen.
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