Angsthauch
sie zurück in die Arzneikiste, dann setzte sie Wasser für eine Tasse Tee auf. Ihr ging es wieder gut. Gut genug, um die Küche in Angriff zu nehmen. Sie putzte in der gewohnten Reihenfolge: im Uhrzeigersinn, ausgehend von der nördlichen Ecke des Raumes. Sie räumte, wischte und fegte, stellte einige Sachen in Schränke und rückte andere zurecht. Sie ließ sich auf die Knie nieder und wischte den Fußboden mit dem Lappen aus der Spüle auf. Normalerweise wäre so etwas undenkbar gewesen, aber in dieser Nacht saß ihr der Teufel im Nacken. Es war ein subversiver Akt, und zwar einer von der besten Sorte, weil nur sie davon wusste.
Erst als sie rückwärtsrutschte, um den Teil zu wischen, auf dem sie zuvor gekniet hatte, fiel ihr das Blut auf. Sie hielt inne, betrachtete es und fragte sich, wo es hergekommen war. In diesem Moment spürte sie den stechenden Schmerz an ihrem Schienbein und streckte es aus, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Es war voller Blut, das aus einer etwa acht Zentimeter langen Wunde hervorquoll. Das musste bei ihrem Sturz auf der Terrasse passiert sein. Sie spülte den Lappen, wrang ihn aus und wischte sich dann genüsslich das Blut ab. Mit verrenktem Oberkörper und zusammengekniffenen Augen inspizierte sie die Wunde und stellte mit einer gewissen Distanz fest, dass sie bis auf den Knochen ging. Sie musste wirklich böse gefallen sein.
Sie ging zurück in die Kammer und holte ihren mit allem Notwendigen ausgestatteten Erste-Hilfe-Kasten vom Regal. Sie träufelte ein Antiseptikum auf einen Gazetupfer und genoss das Brennen, als sie die Wunde säuberte. Dann suchte sie das Klammerpflaster, das sie gekauft hatte, als Gareth sich während des Hausumbaus an der Hand verletzt hatte, drückte die Wundränder zusammen und heftete sie fest aneinander. Zum Schluss klebte sie noch ein großes Pflaster darüber. Fürs Erste würde sie wohl Hosen tragen müssen. Vermutlich wäre es besser gewesen, die Wunde nähen zu lassen, aber sie wollte nicht ins Krankenhaus fahren. Auf keinen Fall durfte sie jetzt das Haus verlassen. Nicht wenn es so viel gab, weswegen sie auf der Hut sein musste.
Sie ging zurück in die Küche und holte Mopp und Eimer. Jetzt erst fiel ihr auf, wie viel Dreck sie gemacht hatte. Der ganze Fußboden war rot, als hätte jemand eine frisch gemordete Leiche umhergeschleift und den blutigen Beweis seiner Tat überall im Raum verteilt.
Es dauerte lange, bis alles sauber war, und der Morgen dämmerte bereits, als Rose sich nach oben schleppte und zwischen ihre beiden Töchter ins Bett kroch. Ihr erschien es unfassbar, dass die beiden die ganze Zeit über geschlafen hatten, während sie so hart gearbeitet hatte. Sie streckte den Arm über Flossie hinweg, um die Nachttischschublade zu öffnen. Kates Rezept lag noch da, unter einer Tube Handcreme verborgen.
Sie faltete es auseinander und las es. Dann ließ sie sich in die Kissen sinken und starrte an die Decke mit den freiliegenden Balken, von denen Andy vermutet hatte, dass sie von einem alten Schiff stammten.
Hier beginnt das Endspiel, dachte sie. Ich stehe das bis zum Schluss durch.
36
E ine Sekunde nachdem Rose aufgewacht war, machte sich Panik in ihr breit, weil sie allein im Bett lag. Ihre Töchter waren verschwunden. Sie sah zum Wecker und stellte fest, dass es bereits nach zehn war. Natürlich waren die beiden schon auf, Anna war längst in der Schule. Rose lag im grauen Licht des durch Vorhänge abgeschotteten Zimmers und versuchte, sich daran zu erinnern, was in der Nacht passiert war. Der Hals tat ihr weh, und ihr Schienbein pochte. Sie wälzte sich auf den Rücken und spürte, wie ihre Wirbelsäule und Hüfte knackten. Sie fühlte sich, als wäre sie zusammengeschlagen worden.
Aus der Küche kam leise Musik. Jemand war unten. Gareth konnte es nicht sein, denn der hörte immer Radio 4 , wenn er im Haus war. Wer passte dann auf Flossie auf? Eine jähe Angst ließ Rose aus dem Bett springen. Ihr Körpergeruch, schal und muffig, breitete sich im Raum aus. Sie schnappte sich ihren Kimono und stürzte auf den Flur hinaus.
Was sie vom Treppenabsatz aus sah, war noch viel schlimmer, als sie befürchtet hatte. Polly saß mit Flossie auf dem Schoß im Sessel und las ihr aus einem Bilderbuch vor. Beide sahen so glücklich aus, als wären sie dazu geboren worden, zusammen dort zu sitzen. Rose rang nach Luft und fuhr sich mit der Hand an die Brust. Polly hörte das Geräusch. Sie hob den Blick, und das Lächeln, das sie für
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