Angsthauch
eventuell die Möglichkeit, dass du die Großen für den Nachmittag übernimmst?«
Nico, Yannis und Anna, die ein paar Meter weiter vorn einen Fußball hin und her gekickt hatten, hielten inne, drehten sich um und sahen Simon erwartungsvoll an.
Simon machte den Mund auf und wieder zu, während er in die Runde schaute. Das war ganz offensichtlich nicht das, was er im Sinn gehabt hatte. Doch schließlich hob er kapitulierend die Hände.
»Aber sicher«, sagte er. »Wie könnte ich diesen drei entzückenden Gesichtern widerstehen? Vier entzückenden Gesichtern«, berichtigte er sich. »Floss kann ich auch nehmen, wenn du möchtest. Janka ist da, ich habe also Unterstützung.«
»Und ich helfe ganz viel mit Flossie«, meldete sich Anna zu Wort.
»Selbstverständlich«, sagte Simon.
»Ich bin dir so dankbar«, meinte Rose, als sie sich dem Tor zu ihrem Grundstück näherten. Sie schob Simon den Buggy hin. »In der Wickeltasche sind Windeln und zwei Fläschchen. Ich komme so gegen sieben und hole sie ab.«
»Keine Eile. Sie müssen ja morgen nicht zur Schule. Komm, wann immer du so weit bist. Miranda ist übers Wochenende in London, ich kann mir die Zeit also einteilen, wie ich will.« In seiner Stimme war eine Spur Wehmut zu hören. »Sag mal, warum kommst du nicht später noch rüber, und wir sehen uns alle zusammen einen Film an? Ich habe eine erstklassige Raubkopie vom neuen Terry Gilliam. Vollkommen undurchsichtig, was die Handlung angeht, aber visuell spektakulär genug, um die Bande hier bei Laune zu halten.«
»Mal sehen, wie es mir geht«, erwiderte sie.
»Wenn dir nicht danach ist, kein Problem. Schau einfach mal.«
Als ob er nicht wollte, dass ich gehe, dachte sie. Als ob er wüsste, was ich vorhabe.
»Na dann«, sagte sie schließlich, drehte sich um und trat durchs Tor. Statt jedoch ins Haus zu gehen, versteckte sie sich hinter der Hecke, bis die lärmenden Kinder sich entfernt hatten und sie sicher sein konnte, dass sie ganz allein war.
Es war erst zwei Uhr, aber das Licht erweckte den Eindruck, als sei es bereits später Nachmittag. Vielleicht lag es auch am Bier. Rose ging in die Küche und holte den Schlüssel zu Gareths Atelier aus ihrer Schürzentasche.
Danach schlich sie auf Zehenspitzen nach oben zu Annas Zimmer. Gareth lag immer noch im Bett, tief unter der Decke vergraben. Rose verharrte ganz still, um zu hören, ob er noch atmete. Nach wenigen Minuten wurde sie mit einem lauten Schnarchen belohnt. Nachdem Gareth sich wieder beruhigt hatte, ging Rose zurück nach unten.
Als Nächstes führte ihr Weg sie nach nebenan, wo sie bei Polly nach dem Rechten sehen wollte. Sie lief leise die Treppe hinauf und klopfte an.
»Herein«, erklang Pollys dünne Stimme.
Sofort fiel Rose der Geruch auf. Polly hatte versucht, ihn mit ihrem Parfüm zu überdecken, aber im Raum hing derselbe muffige, fäkale Gestank wie bei Gareth. Polly saß von Kissen gestützt im Bett. Eine lange knochige Hand lag auf der Bettdecke, die andere hielt eine Ausgabe von Rimbauds Œuvres Poétiques , als hätte sie sich absichtlich so hingesetzt, um wie Mimi in La Bohème auszusehen statt wie eine Engländerin mit Durchfall.
Im Zimmer herrschte wüstes Durcheinander.
»Wie geht’s dir?«, flüsterte Rose.
»Schon etwas besser.« Polly lächelte matt.
»Meinst du, du schaffst es morgen nach Brighton?«
»Versuch nur, mich aufzuhalten«, sagte Polly, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
»Ich bestelle uns ein Taxi zum Bahnhof. Ich will Gareth nicht bemühen. Soll ich dich wecken? Wir müssen um sieben los.«
»Ich schaff das schon.«
»Gut. Kann ich dir noch irgendwas bringen?«
»Nur ein Glas Wasser bitte.«
Rose ging in die Küchenecke und drehte den Hahn auf. Als sie an der Spüle stand, erinnerte sie sich an eine andere Zeit in ihrem Leben. Eine Zeit voller Hoffnung, als sie, Gareth, Anna und Andy zusammen hier gewohnt hatten und sie mit Zuversicht in die Zukunft geblickt hatte. Vor dem Richtfest, vor der Schwangerschaft, vor Polly. Sie erinnerte sich, wie sie nach einer zünftigen Brathähnchen-mahlzeit, die sie sich nach einem Tag harter Arbeit alle redlich verdient hatten, genau hier gestanden und den Abwasch erledigt hatte.
Ein Teil von ihr wünschte sich, sie könnte eine riesige Abrissbirne nehmen und das Pförtnerhaus samt allem, was es enthielt und symbolisierte, einfach niederreißen. Sie würde es dem Erdboden gleichmachen und dann wieder hierher ins Nebengebäude ziehen, um fortan das
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