Angsthauch
schlichte Leben einer Einsiedlerin oder einer Nonne zu führen.
Sie reichte Polly das Wasserglas, die ein paarmal daran nippte und es dann neben das Bett stellte.
»Ich glaub, ich versuche jetzt, ein bisschen zu schlafen«, sagte sie. »Damit ich morgen früh wieder lustig bin.«
Lustig, dachte Rose. Ja, so kann man es auch nennen.
Sie ging die Treppe hinunter und ums Haus herum nach hinten. Unterwegs blieb sie einmal kurz stehen, um sich zu vergewissern, dass Polly sie nicht durchs Fenster beobachtete. Nicht dass es sie gekümmert hätte, ob sie von Polly erwischt wurde. Wenn Gareth sich ihr in den Weg stellte, wäre das etwas anderes – er war stark genug, um sie aufzuhalten. Polly hingegen konnte sie einfach beiseitewischen. Als sie über den Rasen ging, am Schauplatz des Fuchsmordes vorbei, kam ihr der Gedanke, dass es eigentlich erstaunlich war, wie gut sie sich bislang beherrscht hatte. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, Polly zu erledigen. Sie kaltzumachen . Sagte man das nicht so?
Sie schlang die Finger um den verschnörkelten Griff des Schlüssels und steckte ihn ins Schlüsselloch der Ateliertür. Bevor sie aufschloss, hielt sie kurz inne. Wollte sie das wirklich? Falls sie, wie sie stark vermutete, etwas fände, das nicht für ihre Augen bestimmt war – wie würden sich die Dinge dadurch ändern? Vielleicht war Unwissenheit besser. Vielleicht wäre es klüger, einfach weiter daran zu arbeiten, sich Polly vom Hals zu schaffen, damit ihr Leben danach ganz von selbst wieder auf die Bahn in die perfekte Zukunft einschwenken konnte, die sie sich einst erträumt hatten.
Aber dafür brachte sie nicht genug Selbstbeherrschung auf – jetzt nicht mehr. Wie ein Kind, das ein liebevoll verpacktes Weihnachtsgeschenk in der Hand hält, wollte sie sofort wissen, was sie erwartete. Sie stieß die Tür auf und ließ ihren Augen Zeit, sich an das Halbdunkel des Raums mit seinen zugezogenen Vorhängen zu gewöhnen.
Sie schaltete das Licht ein, und die zuvor undeutlichen Schemen gaben ihre Geheimnisse preis. Falls man sie ertappte, konnte sie immer noch behaupten, dass sie gekommen sei, um die benutzten Kaffeetassen für die Spülmaschine einzusammeln – sie zählte insgesamt zwölf, die an verschiedenen Stellen im Raum herumstanden. Dazu kamen die Weingläser, von denen einige am Rand Abdrücke eines allzu bekannten roten Lippenstifts aufwiesen. Und die leeren Flaschen, die sie ins Altglas hatte geben wollen.
Im Ernst. Sie waren ziemlich leichtsinnig.
Aber es kam noch schlimmer. Rose blickte sich um. Der Raum sah aus wie eine Müllkippe. Das allein war noch nichts Ungewöhnliches, das Atelier war der eine Raum, in dem Gareth seiner wahren Natur freien Lauf lassen konnte. Jede Oberfläche war vollgestellt. Rose trat zu einer Bank, die fast die gesamte vier Meter lange Wand einnahm. Man sah sie kaum unter den Bergen von Papier, Zeichnungen und Stiften, die darauflagen. Einige schreckliche Augenblicke lang dachte Rose, dass sich dazwischen auch einige Leichenteile befänden, aber als sie die Papierhaufen auseinanderschob, wurde ihr klar, dass es sich lediglich um Paletten handelte, auf denen dicke Kleckse von Acrylfarbe in allen möglichen Hauttönen zu nussharten Klumpen getrocknet waren.
Sie ging weiter zu dem alten Planschrank, den Gareth mit ihrer Hilfe vor der Renovierung einiger Studios am Goldsmiths gerettet hatte. Obenauf lag ein fünfzehn Zentimeter hoher Stapel Zeichenkarton im Format DIN A 1 . Rose blä tterte ihn durch. Einige der Pappen rutschten dabei zu Boden, und sie ließ sie einfach liegen. Die Skizzen darauf, allesamt in Bleistift, Kohle und Tusche ausgeführt, zeigten hagere Kurven und zwischen Hüftknochen aufgespannte Bauchhaut; winzige Brüste mit Nippeln so groß wie Daumenkuppen; ein Gestänge aus Rippen, das einen Rücken darstellen sollte.
Einige der Zeichnungen hatte Gareth koloriert. Diese studierte Rose besonders gründlich. Die Figuren mit den schwarzen Strümpfen, dem gelockten Scham- und Achselhaar und den traurigen Sexaugen, die den Betrachter so unverwandt ansahen, erinnerten an Egon Schiele. Aber da war noch etwas anderes. Ein melancholischer Hauch von Christos.
Für Gareth waren das ganz außergewöhnliche Arbeiten, das sah Rose auf den ersten Blick. Obwohl man die Einflüsse nicht leugnen konnte, war er weit darüber hinausgegangen. Die Bilder hatten Gareths ganz eigenes Gepräge. Sein Agent und seine Galerie würden entzückt sein. Es waren wunderschöne Arbeiten –
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