Angsthauch
Vielleicht war es die geballte Faust, die nach einem neuen Weg ins Freie suchte. Was auch immer es war, es machte ihr das Sprechen unmöglich, also hob sie stumm die Hände und fuhr sich damit durchs Haar. Dabei zog sie ihre Gesichtshaut stramm nach hinten wie ein Trommelfell, so dass sie einen Moment lang aussehen musste wie eine Frau aus einem Horrorfilm.
»Das ist das Problem mit dir, Rose«, sagte Gareth in einem Gedankensprung, dem sie nicht folgen konnte. »Du hast mich nie als Mann gesehen. Du siehst mich bloß als Mittel zum Zweck.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte sie leise.
»Ist es doch. Und wenn ich mich dann endlich mal vor dich hinstelle und dir zeige, dass ich ein Mann bin, dann kannst du damit nicht umgehen. Es ist dir so unerträglich, dass du es buchstäblich ausblendest. Du fällst hin und wirst ohnmächtig.«
»Um ein Mann zu sein, musst du also ein Gewehr haben, ja?«, fragte sie, während der Kloß sich immer weiter nach oben vorarbeitete, wie ein Neugeborenes, das den Kopf zwischen den Schenkeln seiner Mutter hervorzwängt.
»So war es nicht gemeint, und das weißt du auch ganz genau«, sagte Gareth stöhnend.
»Du musst deiner Tochter beweisen, dass du ein unschuldiges Tier töten kannst?«
»Es war nicht unschuldig. Es war ein Mörder.«
» Du bist der Mörder!«, donnerte sie. »Du mordest alles hier um uns herum!«
»Aahh!« Gareth ballte die Fäuste und stöhnte frustriert auf. Die Sehnen in seinem Hals traten hervor wie Seile. Er zog sich Annas Prinzessinnendecke über den Kopf und warf sich herum, so dass er nun mit dem Gesicht zur Wand lag. Ein Stoß übelriechender Luft wehte Rose entgegen.
Angewidert wandte sie sich ab und marschierte nach unten in ihre Küche. Dort band sie sich mechanisch die Schürze um und goss sich ein großes Glas Wein ein. All das, und noch vor dem Mittagessen. Sie sah, dass ihre Hände zitterten.
Sie brauchte eine Zigarette. Sie ging zu Gareths Jacke, die er über die Lehne eines der hölzernen Küchenstühle geworfen hatte. Sie wusste, dass sie darin ein Päckchen Drum-Tabak und Blättchen finden würde. Als sie in seinen Taschen wühlte, ertasteten ihre Finger die große, kühle Form des Atelierschlüssels. Sie fischte ihn heraus und betrachtete ihn. Es war ein wunderschöner Schlüssel. Sie und Gareth hatten enormen Aufwand betrieben, um alte Originalbeschläge für die Türen zu finden, und obwohl Gareth immer wieder behauptet hatte, dass ihr Bedürfnis nach Schlössern ein Relikt bürgerlichen Denkens sei, hatte er Wert darauf gelegt, dass die Schlüssel nicht nur alt, sondern auch funktionstüchtig waren. Der Atelierschlüssel war schwarz und verschnörkelt und so lang wie Roses Handfläche. Sie stellte sich vor, wie ein hünenhafter Dorfschmied ihn einst auf seinem Amboss geschmiedet hatte, eingehüllt in Rauch und Funken und metallisches Geklirr. Jetzt hielt sie ihn in der Hand, und für sie war er eine Art Fetisch. Das letzte Teil eines Puzzles, mit dessen Hilfe sie die Wahrheit offenbar machen würde.
Sie ließ den Schlüssel in die Tasche ihrer Schürze gleiten und ging mit dem Tabak auf die kleine Seitenterrasse hinaus. Ihr Weinglas nahm sie mit. Sie zupfte drei Blättchen aus der Packung und klebte sie zusammen, als wollte sie einen Joint bauen. Damit drehte sie sich eine riesengroße Zigarette, wobei sie ein Ende zusammenzwirbelte und ins andere ein aus dem grünen Pappstückchen der Rizla-Packung gebasteltes Mundstück steckte. Mit dem Zippo, das Gareth schlampigerweise immer im Tabakbeutel aufbewahrte, zündete sie die Zigarette an, dann lehnte sie sich auf der steinernen Bank zurück. Die Sonne war noch nicht auf dieser Seite des Hauses angekommen. Sie spürte die Kälte im Rücken und in den Schenkeln.
Nach dem Ohnmachtsanfall, der mehrtägigen Bettruhe und dem Glas Wein auf nüchternem Magen verschaffte ihr der Tabak einen Rausch, wie ihn nur Gelegenheitsraucher kennen. Einen Augenblick lang schien sie aus ihrem Körper herauszutreten und über sich zu schweben. Sie blickte auf die nicht mehr ganz junge Hausfrau herunter, die sie vor aller Welt darstellte, und sah die hastig hochgesteckten Haare – wie lange war es her, dass sie beim Friseur gewesen war? –, das Gesicht ohne jedes Make-up und die wogenden Cellulitegebirge, die ihre faden, praktischen Kleider nur unzureichend verbargen.
Sie schloss die Augen vor diesem Bild und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Nun, da der Beweis erbracht war, würde sie heimlich
Weitere Kostenlose Bücher