AnidA - Trilogie (komplett)
»Die Krähe«, murmelte sie. Ich fühlte, wie ihre Finger sich an meiner Brust bewegten. Sie zog die Hand heraus und hielt mir den holzgeschnitzten Vogel hin. Ich hörte, wie Ylenia scharf die Luft einsog, als ich nach dem Spielzeug griff. Ich drehte Jinqx' Hinterlassenschaft zwischen meinen Fingern und blickte erstaunt darauf nieder. Die hölzerne Krähe hielt eine schwarz funkelnde, geschliffene Perle in den Krallen. Ida lächelte.
Wir ruhten uns noch diesen Tag lang aus und brachen am anderen Morgen auf, um zunächst nach Iskerias zu reiten. Ich hatte darum gebeten, weil ich wusste, wie viel Ida daran lag, nach der Khanÿ – Dorkas – zu forschen.
»Wir können sicher in dem Gasthaus übernachten, das diesem Amos gehört hat«, schlug Mellis vernünftig wie immer vor. Ida wandte den Kopf ab und nickte matt. Sie öffnete ihre Augen und tastete sich langsam zum Waldrand. Ich wusste, dass sie vor unserer Abreise noch einen Moment lang allein sein wollte – so allein, wie eine Frau eben sein kann, wenn sie mit einer anderen geistig verbunden ist. Es berührte mich immer noch seltsam, wenn ich sie ihre Augen öffnen sah. Die beunruhigende silbrige Farbe, die sie zuerst gehabt hatten, verdunkelte sich nun nach und nach zu einem glänzenden Schwarz, das ihren Blick zugleich leblos und durchdringend wirken ließ. Ich wusste, dass sie so gut wie blind war, wenn sie ihre Lider hob, obwohl ihr eine schwache Unterscheidung von Licht und Dunkel möglich war. Dennoch bedeutete es eine Erleichterung für Ida, die Augen zu öffnen, gerade so, als wenn ich meine müden Lider zu einer kurzen Rast sinken ließ. Ihr zweiter, innerer Blick wurde dafür immer schärfer und zeigte ihr anscheinend nicht mehr allein das, was um sie herum war. Sie hatte noch Schwierigkeiten damit, das Gesehene zu deuten, und benötigte Ruhe und eine gewisse Abgeschiedenheit, um sich mit diesem neuen Sinn und dem Verlust des alten zu befreunden.
»Es ist verwirrend«, sagte sie in der Stille unseres Zeltes. Ihre Augen standen weit offen und spiegelten das weiche Licht des Glühsteins. »Ich weiß die meiste Zeit nicht, was ich eigentlich sehe. Dich erkenne ich immer leicht, aber das ist nicht verwunderlich. Tante Ylenia und Tallis sind auch sehr deutlich. Sie haben eine ganz charakteristische – Schwingung?« Sie verstummte und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Ich empfing deutlich ihre Gedanken und konnte daher beinahe begreifen, was sie »Schwingung« nannte. Mir fehlte genauso wie ihr der richtige Begriff für den Sinneseindruck, den sie damit bezeichnete, und der gleichermaßen mit Sicht, Hör- und Tastsinn und Geruch zu tun hatte und dennoch nichts von alldem war.
Ida seufzte, als sie meine verwirrten Gedanken empfing, und lehnte sich schwer gegen mich. Unsere körperliche Trennung belastete uns beide immer noch, aber wir begannen, uns daran zu gewöhnen. Das war auch gut so, da wir den Rest unseres Lebens wieder als zwei eigenständige Individuen verbringen mussten, obwohl wir das nicht wirklich waren.
Idas Gedanken schweiften zu etwas anderem. Ich trank einen Schluck Tee und legte mich zurück. »Du musst es ihnen sagen«, bemerkte ich schläfrig. »Mellis war immerhin ihre beste Freundin.«
Ida nickte unglücklich. »Morgen«, sagte sie bedrückt. »Morgen erzähle ich es ihnen.«
Kurz bevor wir Iskerias erreichten, legten wir eine Rast ein. Als wir mit unseren Bechern, aus denen es verlockend dampfte, um das kleine Feuer saßen, hob Ida den Kopf und bat um Aufmerksamkeit. Sie erzählte mit ruhiger, emotionsloser Stimme von ihrem Treffen mit Dorkas und der Verbrecherorganisation, die sie leitete. Mellis schwieg, während Ida berichtete. Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck äußersten Unglaubens. Als Ida geendet hatte, brach Mellis erbittert los. Ida ließ die ungerechtfertigten Vorwürfe stumm über sich ergehen, den Blick ihrer geschlossenen Augen ruhig auf die erregte Frau gerichtet.
»Mellis«, rügte die ältere Grennach nach einer Weile sanft. »Warum beschimpfst du Ida? Sie hat nur berichtet, was sie selbst gesehen und erlebt hat. Warum sollte sie uns belügen?«
Mellis verstummte beschämt. Sie senkte den Kopf und blickte in ihren Tee. »Entschuldige«, sagte sie nach einer Weile leise. »Es tut mir leid, Ida. Ich wollte dich nicht der Lüge bezichtigen, aber was du erzählst, kann ich einfach nicht glauben. Dorkas soll Menschen in die Hierarchie verkauft haben? Sogar Kinder ...?« Sie brach ab und legte das Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher