AnidA - Trilogie (komplett)
Halt gab, und nahm all ihren Mut zusammen, um durch den tobenden Wirbel hindurchzugehen.
Auf der anderen Seite war es dunkel und still, so, als hätte die wirbelnde Masse aus weißen und schwarzen Blitzen nie existiert, Anna lauschte und wartete. Leise Stimmen erklangen in der Ferne, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Waren es überhaupt Stimmen? Oder waren es vielmehr Lichter, kleine Funken, die ihr Ohr kitzelten und ihre Nase reizten?
Anna ging ein paar Schritte weiter in die Dunkelheit hinein. Hinter sich spürte sie die Gegenwart der Krähe, und das beruhigte sie. Solange sie wusste, wo Jinqx war, konnte sie sich nicht verlaufen. Tastend ging sie weiter. Silbrige Fäden wie von einem Spinnengewebe verbanden sie mit der Krähe, und je weiter sie voranschritt, desto fester wurde der Zug, den sie ausübten. Sie zitterte vor Anstrengung, und wenn da Luft gewesen wäre, die sie hätte atmen können, wären ihre Lungen sicher fast zersprungen, so sehr vermeinte sie zu keuchen. Sie kämpfte sich weiter voran, aber die Stimmen – oder Lichtfunken? – wichen vor ihr zurück, und die Entfernung zu ihnen verringerte sich nicht um einen einzigen Schritt.
Entmutigt blieb sie stehen. Weit hinter sich glaubte sie Jinqx rufen zu hören, und vor ihr lockten die leisen Stimmen. Sie wusste, wessen Ruf stärker war.
Jeder weitere Schritt war eine flammende Qual. Die Silberfäden, die sie mit Jinqx verbanden, waren zu Banden aus Eisen geworden, die sie unbarmherzig fesselten und ihr die Luft abschnürten. Sie musste sie unbedingt abstreifen, damit sie weitergehen konnte. Anna sank in die Hocke und konzentrierte sich auf die Bande, die sie hielten. Ihre geistigen Finger berührten eins von ihnen, hakten sich darunter, und sie spürte, wie es sich lockerte und abfiel. Die mentale Entsprechung eines warnenden, erschreckten Schreis erklang weit hinter ihr.
Sie tastete nach der nächsten Verbindung. Auch diese löste sich, wenn auch schwerer als die erste. Etwas schien danach zu trachten, die Bande zu stärken und zu erhalten. Anna zögerte. Wenn sie sich von der Verbindung zu Jinqx befreite, war es fraglich, ob sie den Rückweg finden würde. Sie wusste nicht, ob es ihr überhaupt gelingen würde, die Herzen zu erreichen, die trotz ihres lockenden Rufes immer vor ihr zurückwichen. Was, wenn sie endlos weiter durch diese Dunkelheit tappen würde, ohne Ziel und ohne die Möglichkeit zurückzukehren?
Die Stimmen riefen. Anna lockerte die nächste Bindung und ließ sie hinter sich. Zwei waren noch übrig, und die pulsierten mit einem Gefühl der Angst und Sorge. Als Anna danach tastete, wanden sie sich wie Schlangen und wichen ihrem Zugriff aus. Endlich bekam sie einen der Stränge zu fassen und griff fest zu, damit er ihr nicht mehr entkam.
Halt ein, erklang eine Stimme wie ein volltönender Gong in ihrem Bewusstsein. Das war nicht die inzwischen vertraute mentale Stimme der Krähe.
Trenne die Verbindung nicht! Wir stärken sie, damit du weiterkommst, sagte Tallis. Weitere Grennach-Stimmen murmelten im Hintergrund.
Anna zögerte. Der verbindende Strang, den sie umklammerte, schien dicker zu werden und sich zu erwärmen. Sie erhob sich und versuchte sich zu orientieren. Dort waren die Lichter-Stimmen, denen sie folgen musste. Neue Kraft durchströmte sie, und sie eilte weiter.
Sie weichen fort, sagte Tallis. Du wirst sie so nicht erreichen können. Komm zurück.
Anna starrte die in weiter Ferne funkelnden Lichter an. Das Verlangen danach, sie zu berühren, sie in den Händen zu halten, war übermächtig.
Geh nicht weiter, drängte die Stimme der Krähe. Anna wich einen Schritt zurück. Wie zum Hohn rückten die fernen Lichter wieder näher. Sie stöhnte. Und mit einem festen Ruck warf sie die Kraft spendenden Fesseln ab und stieg empor – eine silberne Möwe mit sichelförmigen Schwingen, die durch die Nicht-Luft schnitten und sie den Lichtern entgegentrugen, während hinter ihr ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei verhallte.
~ 16 ~
Sullis, eine der Grennach-Heilerinnen aus dem Großen Nest, zog behutsam die Decke über die reglose Gestalt der jungen Frau und richtete sich auf. Sie begegnete den besorgten Blicken der anderen und schüttelte sacht den Kopf.
»Ich kann nichts für sie tun«, sagte sie. »Sie hat keinerlei körperlichen Schaden davongetragen, doch wo immer ihr Geist jetzt weilt – es übersteigt meine Fähigkeiten, ihn zurückzurufen. Lasst sie schlafen, und es sollte immer jemand hier bei
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