AnidA - Trilogie (komplett)
steckte noch einmal den Kopf durch den Eingang und blickte die junge Frau an, die erschöpft und unglücklich in der Mitte der Höhle hockte. »Ruf mich, wenn du mich brauchst«, sagte sie. »Ich kann dir vielleicht nicht raten – aber ich kann dir zuhören.«
»Danke«, murmelte Anna. »Geht nur. Schlaft, wenn Ihr das könnt. Ich rufe Euch, das verspreche ich Euch.«
Die Krähe nickte und ging. Anna hörte, wie sie den Ast entlangging und auf die nächste Ebene hinabkletterte. Ihre Ohren waren so scharf, als gehörten sie einem Nachtvogel. Weit über sich hörte sie die Blätter im Wind wispern und das leise Rufen einer Taube. Im Inneren des alten Baumes seufzten die Säfte, die von seinen Wurzeln zu den weit entfernten Zweigen an der Spitze aufstiegen. Unter ihren Füßen spürte sie, wie sich der Baum leise regte wie ein riesiges, atmendes Tier. Sie legte ihre Hände an das warme, alte Holz und spürte seine Kraft und sein unendlich langsames Wachstum.
Entschlossen nahm sie die Herzen, steckte sie beinahe achtlos in die Tasche ihres Kittels und kletterte aus der Höhlung hinaus ins Licht der Abenddämmerung. Flink stieg sie durch das Geäst hinauf, bis sie den Himmel über sich sehen konnte. Mit einem kleinen geistigen Achselzucken verwandelte sie sich wieder in einen Star und flog hoch hinaus in den lichten Abendhimmel. Unter ihr erstreckte sich das schier endlose Waldgebiet, hinter dessen Grenze die ersten Dörfer der Menschen auftauchten. Weit voraus erahnte sie die Gipfel der Ewigkeitsberge, und während die Sonne hinter dem Horizont unterging, tauchten ihre Strahlen den Schnee der Gipfel in rötlichen Glanz.
Anna ließ sich zum Großen Nest fallen und landete auf einem der äußeren Äste. Dort saß sie eine Weile in menschlicher Gestalt und blickte über die Baumwipfel rundum. Als ein Rabe neben ihr landete, wandte sie den Kopf und lächelte schmerzlich.
»Hallo«, sagte Korben.
»Hallo«, erwiderte Anna. »Hat Jinqx es dir gesagt?«
Korben verzog das Gesicht. »Du wirst die Magie verschwinden lassen. Stimmt das?«
Anna hob die Schultern. »Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte sie. »Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst?«
Korben schwieg und rieb gedankenverloren seine verkrüppelte Schulter. »Wie wird das Leben hier aussehen ohne Magie?« Er grinste kurz und humorlos. »Die Oberste Hexe wird schäumen. Und der Magische Rat ...«
Anna schnaubte. »Dem gilt wohl meine kleinste Sorge«, sagte sie scharf. »Sie werden andere Möglichkeiten finden, sich zu beschäftigen. Meister Wilber zum Beispiel wird auch ohne Magie bestens zurechtkommen, da bin ich sicher.«
Korben seufzte. »Und ich? Und du?«
Anna schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um uns beide. Es geht um viel, viel mehr. Und sei ehrlich – die meisten Menschen würden es gar nicht bemerken, wenn es keine Zauberei mehr gäbe. Denk an Mika.«
Korben wandte den Kopf ab. »Aber ich würde es bemerken«, sagte er leise. »Es wäre schlimm, nie wieder fliegen zu können. Meinen Großvater niemals zu sehen. Nicht zu wissen, was ich alles kann und wer ich wirklich bin. Ich wäre nichts weiter als ein schlechter Heiler oder ein unzufriedener Kräuterhändler!«
Anna nahm traurig und voller Mitgefühl seine Hand und drückte sie. Dann hob sie den Kopf und rief leise in den Wind: »Jinqx!«
Es dauerte nicht lange, und die Krähe landete neben ihnen. Sie legte den Kopf schief und beäugte Korben und Anna mit aufmerksamen schwarzen Augen. Korben erwiderte den Blick voller Trotz. »Ich will nicht darauf verzichten«, sagte er heftig. »Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, ein Magier zu sein. Jetzt habe ich eine Meisterin gefunden, die mächtiger und klüger ist als alle anderen auf der Welt und die mich als ihren Schüler will ... Anna, ich kann darauf nicht verzichten! Ich bitte dich, suche nach einem anderen Weg.«
Die Krähe schüttelte sich und wurde zu Jinqx.
»Ich brauche Euren Rat«, sagte Anna. »Ihr habt Ter'nyoss gehütet. Wenn die Herzen zu ihrer Hüterin sprechen – können sie lügen?«
Jinqx schwieg lange. Ihre dunklen Augen hielten Annas Blick stand. »Nein«, sagte sie schließlich zögernd. »Nein, ich denke nicht, dass die Herzen dich anlügen würden. Aber es ist möglich, dass sie ... unklar sind. Dass du nicht alles siehst oder begreifst, was sie dir zeigen.«
Anna schüttelte den Kopf. »Nichts ist unklar«, stellte sie fest. »Ich wollte fast, ihre Botschaft wäre weniger
Weitere Kostenlose Bücher