Anidas Prophezeiung
die belustigten Kringel in seinen Mundwinkeln boten ihr auch keine brauchbaren Hinweise.
»Ich war ziemlich blau«, begann sie vorsichtig. Die Kringel vertieften sich. Wieder hatte sie das unheimliche Gefühl, unter all den verhüllenden Fleischmassen deutlich die feinen Züge des jungen Ritters Simon erkennen zu können.
»Ziemlich«, bestätigte der Wirt ungerührt. Er schenkte ihr von dem starken Tee nach. Sie versenkte ihren Blick Hilfe suchend in die bräunliche Tiefe ihres Bechers.
»Warum seid Ihr bloß so unverschämt frisch und munter?«, sagte sie vorwurfsvoll. Marten lachte rollend und klatschte sich selbstzufrieden mit der Hand auf den fetten Bauch.
»Ich habe etwas mehr Masse als Ihr, Prinzessin. Und wahrscheinlich auch etwas mehr Übung«, setzte er zwinkernd hinzu. Das Weiß seiner Augen war gerötet, das einzige Anzeichen für die schwere Zecherei der letzten Nacht. »Ich habe Eure Packtaschen abholen lassen«, fuhr er in geschäftsmäßigem Ton fort und wies mit dem Daumen unbestimmt in Richtung des Schankraums. »Euer Pferd kann beim Schmied untergestellt bleiben, er hat genügend Platz.« Ida dankte ihm leicht verwirrt und ließ sich noch einen Becher Tee geben. Das starke, bittere Aroma tat ihr wohl.
»Wollt Ihr wirklich nichts mehr essen?«, fragte Marten ungläubig. Ida schüttelte den Kopf und sah dem dicken Mann zu, wie er das Geschirr zusammenräumte und hinüber zum Spülzuber brachte. Er bewegte sich mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit für seine beträchtliche Körperfülle, dachte sie müßig. Fast wie ein Kämpfer. Sie grinste in sich hinein bei dieser absurden Vorstellung.
»Was meint Ihr, sollen wir unsere schweren Köpfe ein wenig auslüften?«, schlug der Wirt vor und trocknete sich die Hände ab. »Ich finde, wir könnten ebenso gut bei einem kleinen Spaziergang miteinander reden.«
»Eine gute Idee«, stimmte Ida erleichtert zu. Die von Essensgerüchen geschwängerte Küchenluft machte ihr ein wenig zu schaffen. Marten band die schmuddelige Schürze ab, die er um seine enorme Mitte geschlungen hatte, und warf sie in die Ecke. Einladend wies er auf die Hintertür und ließ Ida höflich den Vortritt.
Sie gingen schweigend durch die belebten Gassen der Ortschaft. Ida bemerkte, dass sie neugierig gemustert wurde. Viele grüßten den Wirt, der stumm und friedlich neben ihr hertappte wie ein riesiger Tanzbär.
»Habt Ihr etwas von Dorkas gehört?«, brach Ida das Schweigen, als sie die letzten Häuser des Städtchens hinter sich gelassen hatten. Marten sah sie mit zusammengekniffenen Augen von der Seite an.
»Von wem?«, fragte er brummig.
Ida blinzelte zu ihm auf und schob die Ärmel ihres Hemdes über die Ellbogen. »Dorkas«, wiederholte sie geduldig. »Ihr habt Ihr vor einigen Jahren geholfen, zum Nebelhort ...«
»Ach, dieses scharfzüngige alte Gildenweib«, unterbrach der Wirt sie ungehobelt. »Nein, die hab ich seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen, den Schöpfern sei Dank.« Ida erwiderte nichts auf diese Grobheit. Nachdenklich spitzte sie die Lippen.
»Was habt Ihr jetzt vor?«, fragte der Wirt. Sie durchquerten ein niedriges, lichtes Gehölz und näherten sich dem Rand eines kleinen Wäldchens.
»Ich will Euren Bruder finden, Ihr erinnert Euch?«, erwiderte Ida mit leisem Spott.
Marten grunzte missbilligend. »Kommt, rasten wir einen Moment«, schlug er schnaufend vor. Ida blickte mit hochgezogenen Brauen zu ihm hinüber. Sein Gesicht war gerötet, und er atmete schwer. Schlechte Kondition, dachte Ida mitleidlos. Kein Wunder bei dem Gewicht, das er mit sich rumschleppt.
Sie ließ sich auf ein sonnenbeschienenes Moospolster fallen und streckte sich wohlig. Marten hockte sich auf einen vom Sturm gefällten Baumstamm, die massigen Schenkel gespreizt, damit sein Bauch zwischen ihnen Platz fand. Er grub in seiner Jackentasche und förderte eine stummelige Pfeife zutage, die in seiner riesigen Pranke beinahe zu verschwinden drohte. Aus einem kleinen Lederbeutel begann er, den abgegriffenen Kopf der Pfeife mit krausem, dunklem Kraut zu füllen. Ida sah ihm interessiert bei der Zeremonie zu. Sein Daumen passte nicht in den Pfeifenkopf, und auch der fette Zeigefinger hatte alle Mühe, den Tabak festgestopft zu bekommen. Marten setzte die Pfeife paffend mit einem Glühstein in Brand und entließ einige graublaue Rauchkringel in die stille, warme Luft. Ein Kuckuck rief, und Ida zählte unwillkürlich mit.
»Sehr alt werden wir beide anscheinend nicht mehr«, bemerkte
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