Anidas Prophezeiung
nicht böse«, fuhr er kauend fort. »Ich würde mir an Eurer Stelle auch nicht trauen.«
Ida sah ihn mit plötzlicher Sympathie an. Er grinste und wies wieder einladend auf das sich stetig leerende Brett. Ida nahm sich noch eine Hühnerkeule, obwohl sie bereits satt war. Es war unglaublich, was für Mengen dieser Fettwanst verdrücken konnte.
»Nun, ich wüsste nicht, warum ich Euch misstrauen sollte. Es ist nur so, dass die Sache mir ein wenig peinlich ist.« Sie lächelte schief. »Ich habe Eurem Bruder damals eine Halskette gegeben, die einmal meiner Mutter gehört hat. Es sollte eine Art von Pfand sein.« Sie verstummte und sah den Wirt drohend an. Er sollte es nur wagen, sich über sie lustig zu machen. Aber Martens helle Augen blickten erstaunlich verständnisvoll.
»Ihr müsst damals noch ein Kind gewesen sein«, sagte er sanft. »Der gute Simon war niemals sehr rücksichtsvoll, was seine Weibergeschichten anging.« Er schnaubte angewidert. Ida war plötzlich sehr müde. Sie gähnte herzhaft und rieb sich das Gesicht.
»Habt Ihr schon einen Schlafplatz?«, fragte der Wirt.
Ida verneinte schleppend. Darum musste sie sich jetzt kümmern. Sie stemmte sich hoch und murmelte: »Können wir uns morgen weiter unterhalten? Ich falle um vor Müdigkeit.«
»Ihr könnt hier übernachten«, bot der dicke Mann an. Er machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben und sie vorbeizulassen. »Ich habe freie Gästezimmer.«
»Das glaube ich«, bemerkte Ida wenig höflich. Marten lachte dröhnend. »Hört, Wirt, ich muss sowieso noch mein Pferd abholen, es steht beim Schmied.«
»Ach, da steht es gut«, winkte Marten ab und griff wieder nach seinem Humpen. »Kommt schon, seid nicht ungemütlich. Trinkt Euer Bier aus, während Leni Euch das Zimmer bereitet. Der Schmied ist in Ordnung, er wird Euer Pferd schon anständig versorgen.« Ida gab sich geschlagen und sank wieder auf die Bank zurück. Die Schankmaid kam mit zwei frischen Humpen, und Marten gab ihr die Anweisung, das »schöne« Zimmer herzurichten.
Ida sollte es später nie mehr gelingen, den weiteren Verlauf der langen Nacht zu rekonstruieren. Irgendwann war der Wirt zur Theke geschwankt und hatte einen Krug mit zurückgebracht, der eine besondere Spezialität enthielt, wie er augenzwinkernd sagte. Die »Spezialität« entpuppte sich als grünlicher Nebelhorter Schnaps. Er stieg klar und stark in ihren schon vom Bier benebelten Kopf und hüllte die schäbige Schenke und den fetten Mann neben ihr schnell und gründlich in einen freundlich glühenden Dunst. Sie bekam nur noch am Rande mit, dass die Schenke sich nach und nach leerte.
Dann wurde die Schankmaid nach Hause geschickt, die Tür der Schenke verschlossen, und sie saß und trank und redete und lachte, wobei sie das vage Gefühl nicht verließ, dass ihre Zunge in den letzten Stunden auf seltsamem Wege gelernt haben musste, eine fremde Sprache zu sprechen, die ihr selbst unverständlich in den Ohren klang. Aber der dicke Mann neben ihr schien sie allem Anschein nach zu verstehen, und so amüsierten sich alle drei köstlich: Ida, ihre fremde Zunge und der Wirt.
Ein zweiter und dritter Krug mit der hochprozentigen Spezialität aus dem Nebelhort erschienen auf geheimnisvolle Weise vor ihnen auf dem Tisch und wurden beherzt in Angriff genommen.
»Ich glaub', ich sollt' ins Bett«, riss Ida irgendwann energisch wieder die Kontrolle über ihre Sprachwerkzeuge an sich und inspizierte traurig ihren geleerten Becher. »War'n langer Tag.« Sie versuchte sich hochzustemmen und sank kichernd wieder zurück. »He, Mann, hassu mir meine Füße geklaut?«, beschwerte sie sich lachend und erbost. Der Wirt griff nach der Tischkante und versuchte, einen Blick unter die Bank zu werfen, was bei seinem Leibesumfang eine komplizierte akrobatische Übung darstellte.
»Seh nix«, tauchte er mit hochrotem Kopf wieder auf. »Bissu sicher, daschu – hupp – dassu sie dabeihatte', alssu reinkams'?«
Ida kratzte sich ratlos am Kopf. »Nee«, musste sie beschämt zugeben. »Nee, bin ja den ganzen Weg geritten. Habse v'leich' z'Haus' vergessen.«
Marten lachte und entließ einen donnernden Rülpser. »Mach' nix, ich trag dich«, verkündete er großartig und versuchte aufzustehen. Zweimal fiel er schwer wieder auf die Bank zurück, dann gelang es ihm, indem Ida von hinten kräftig anschob, seine Massen in einen unsicheren Stand zu wuchten. Er reichte ihr eine schinkengroße Hand und zog sie auf die Beine. Sie stolperte vorwärts
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