Anidas Prophezeiung
verzog dann schmerzlich das Gesicht. »Biest«, sagte er friedlich und saugte an dem Schnitt in seinem Handrücken. Ida zwinkerte ihm zu und steckte ihr Messer wieder in den Gürtel zurück. Marten stand auf und schichtete das Geschirr übereinander. »Es wird Zeit, dass ich mich um meine Gäste kümmere. Leni kommt zwar tadellos alleine zurecht, aber es gibt das eine oder andere Geschäft, das meiner persönlichen Aufmerksamkeit bedarf.« Er grinste verschlagen.
»Wie regeln wir Eure Bezahlung für die Dienste, die Ihr mir leisten werdet?«, fragte Ida nüchtern. »Ich trage im Moment keine große Barschaft mit mir herum.«
Er wischte es mit einer großen Geste beiseite. »Ich vertraue auf Eure Ehrlichkeit, Prinzessin. Zahlt, wenn ich die ersten Ergebnisse bringe.« Er lehnte sich vor und stützte sich auf der Tischplatte ab. Ida wich ein wenig zurück. Seine grünlichen Augen bohrten sich in ihre. »Ich kann doch auf Eure Ehrlichkeit vertrauen, oder?«, setzte er leise hinzu. Die unverhüllte Drohung in seiner Stimme ließ Ida einen winzigen Schauer den Rücken herunterlaufen.
»Das könnt Ihr, Wirt«, sagte sie grob. »Ihr habt mein Wort, habt Ihr das vergessen? Ich hoffe, ich kann genauso auf Euer Wort vertrauen.«
Seine Haltung veränderte sich nicht. Einige Lidschläge lang starrten die beiden sich eisig an. Dann begann der Wirt breit zu lächeln und schlug Ida auf die Schulter. »Ihr seid schon ein tolles Weib«, sagte er. »Ewig schade, dass Ihr so dürr seid. Was meint Ihr, bleibt doch ein paar Wochen hier und lasst Euch von mir ein wenig mästen. Na?«
Na, ich danke«, erwiderte Ida und stand auf. »Macht mir meine Rechnung fertig, Wirt. Ich will morgen in aller Frühe aufbrechen.«
Ida blickte düster in den dicht fallenden Schnee hinaus und tappte voller Ungeduld mit den Fingerspitzen gegen das dicke, blasendurchzogene Glas der Fensterscheibe. Selbst dieser verzerrte Blick ins Freie zeigte ihr nur zu deutlich den bleigrauen Himmel, aus dem beständig große, lautlos fallende Flocken herabrieselten. Die Sicht betrug nicht mehr als ein paar Schritte. Ida erinnerte sich mit Schaudern an den gestrigen Abend, als sie es nicht mehr im Gästehaus des Ordens ausgehalten hatte und sich draußen ein wenig die Füße vertreten wollte. Innerhalb von wenigen Minuten war sie bis auf die Knochen durchgefroren und nahezu erblindet durch den nassen, schweren Schnee, der in ihrem Gesicht, in ihren Wimpern und Haaren klebte, an ihren Kleidern haftete und sie innerhalb kürzester Zeit aussehen und sich fühlen ließ wie eine wandelnde Schneewehe. Was von drinnen so harmlos und idyllisch ausgesehen hatte, war, als sie erst einmal den Windschutz des Hauses verlassen hatte, zu einer pfeifenden, tobenden Hölle aus Schnee, Wind und Dunkelheit geworden. Sie hatte alle erdenkliche Mühe gehabt, das Haus in dem Schneetreiben überhaupt wieder zu finden.
Der Herbst hatte sich hier im Norden allzu schnell seinem Ende entgegengeneigt. Ida dachte mit Sehnsucht an das Gildenhaus. Zwar wurden auch dort die Tage inzwischen kürzer, und erste Stürme fegten durch die Straßen von Nortenne, aber es war am Tage immer noch sommerlich warm, und die Bäume erglühten in kräftigen, herbstlichen Farben. Hier gab es nur karge Felsen, einige windgepeitschte Nadelbäume und die Obstbäume im Garten des Ordens, die ihre Äste kahl und winterlich in den grauen Himmel reckten, dessen tief hängende Wolken den ersten Schnee ankündigten.
Ylenia hatte sie freudig überrascht und überaus herzlich empfangen und im bequemsten Zimmer des Gästehauses einquartiert. Die weiße Hexe schien in den langen Jahren, die Tante und Nichte sich nicht gesehen hatten, kaum gealtert zu sein. Ida und sie hatten einen langen, friedlichen Abend am Kaminfeuer zusammengesessen, Apfelwein getrunken und geplaudert. Dann wollte Ida ihrer Tante von ihrem Anliegen berichten, aber Ylenia hatte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen gebracht.
»Nicht mehr heute Abend«, sagte sie bestimmt. »Ich weiß, dass dich nicht allein die Sehnsucht nach deiner alten Tante hierher getrieben hat, noch dazu so kurz vor Einbruch der Kalten Zeit. Aber du bist müde von der Reise, und ich kann mir vorstellen, dass wir für das, was du mir erzählen willst, beide einen klaren Kopf benötigen.« Ida hatte notgedrungen genickt und sich wie ein gehorsames Kind ins Bett schicken lassen.
Danach musste sie mit steigender Ungeduld auf das nächste Wiedersehen mit ihrer Tante warten. Ylenia
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