Anidas Prophezeiung
ziehen.
Die schönen, unmenschlichen, sehnsüchtigen Stimmen begleiteten sie auf ihrem Weg, aber sie leiteten sie nicht. Es war ihr, als wanderte sie Tage und Wochen durch einen unendlich großen Kristall, ohne Rast, ohne Ziel.
Helft mir, sagte sie lautlos, um den niemals abreißenden Gesang nicht zu stören. Was soll ich tun?
Finde das Herz, Bewahrerin des Feuers. Folge deinem Herzen, Schloss des Einen. Folge dem Herzen.
Sie blieb stehen und öffnete die Augen. Sie schien immer noch dort zu stehen, wo sie ihren Weg durch den Kristall begonnen hatte. Die Wände funkelten rot wie im Licht der untergehenden Sonne. »Ah«, seufzte sie. Ihr Seufzer wurde von den Stimmen in den Gesang aufgenommen und mit ihm verwoben. Ah – aaah – ahhhh ..., es jubelte und seufzte, stöhnte und wehte wie ferner Wind um einen einsamen Gipfel. Sie zog das Herz des Feuers hervor und hielt es hoch empor.
Herz zu Herz, jubelten die Stimmen. Folge dem Herzen, Hüterin der Vielen.
Das Schmuckstück erglühte in tiefem Rot. Sie ließ sich von ihm tiefer hinein in den kristallenen Palast führen und wanderte durch Gänge, die gelb und grün und violett erschimmerten und schließlich in allen Schattierungen vom tiefsten Mitternachtsblau bis zum allerzartesten, fast durchsichtigen Azur erglühten.
Hier, sangen die Stimmen. Finde das Herz im Herzen des Windpalastes, Hüterin der Vielen.
Sie sah sich verwirrt um. Herz zu Herz. Herz zu Herz. Herz zu Herz. Der Gesang schwoll wild an und dröhnte in ihren Ohren, pulsierte im Einklang mit dem Schlag ihres Herzens, klopfte durch ihre Adern, pochte in ihren Augen, bis sie glaubte, taub, blind und wahnsinnig zugleich zu werden.
Sie drehte sich um die eigene Achse und starrte auf die Kristalle, die rundherum aus den spiegelnden Wänden wuchsen. Ihre Hand näherte sich einem von ihnen und umfasste ihn, doch er saß fest und wollte sich unter ihrem Griff nicht lösen. Voller Verzweiflung blickte sie in ihr Spiegelbild auf der glitzernden Oberfläche und erschrak vor dem Schmerz und der Angst, die sie auf ihrem Gesicht erblickte. Ohne nachzudenken streckte sie die Hände aus und berührte die Wand, die sich unter ihren Handflächen erwärmte und nachgiebig wurde. Ihre Finger berührten warmes, lebendiges Fleisch. Unwillkürlich griff sie fest zu, um die fremden Hände zu umklammern und die andere ganz zu sich herüberzuziehen.
Hüterinnen der Vielen, Schloss und Schlüssel des Einen, Herz und Herz und Herz, sangen die Stimmen voller Freude. Sie hielt einen großen Kristall in ihrer Hand und starrte auf sein blaues Feuer nieder. Geblendet schloss sie die Augen und wanderte zurück, den ganzen, endlos langen Weg aus dem Herzen des kristallenen Palastes zurück, begleitet und geschützt von den sanfter gewordenen Gesängen der luftigen Stimmen.
Du musst uns nun verlassen, Hüterin der Vielen, kein Menschenkind kann lange unsere Luft atmen, summte es klingend in ihr Ohr. Geh mit unserem Segen, Bewahrerin der Herzen. Unser Schutz begleitet dich, Schloss des Einen.
Sie stand auf einem weiten, von keiner menschlichen Spur gezeichneten Schneefeld und blickte hinaus in die blaue Unendlichkeit des Himmels. Über ihr war nichts als diese betäubende, strahlende Bläue und unter ihr all das blendende Weiß. Sie schloss die Augen, um nicht zu erblinden. An ihrem Schenkel spürte sie die sachte Berührung eines warmen, atmenden Körpers. Ihre Hand ertastete dichtes Fell, in das sie tief ihre Finger hineingrub. In der anderen Hand hielt sie einen großen, unregelmäßig geformten Eiszapfen, an dem ihre Finger unlösbar festgefroren waren. Mit dem Wolf an ihrer Seite und dem Bären an ihrer anderen begann sie den Abstieg vom Gipfel des Berges.
Am Fuß der Ewigkeitsberge war der Schnee bis auf einige hartnäckige Reste getaut. Die ersten hellvioletten Kelche des Schneebechers wagten sich zaghaft in das noch winterlich blasse Sonnenlicht, und die vielstimmigen Vogelrufe, die während des Winters verstummt waren, weckten schon seit einer Woche wieder den Morgen.
Ylenia stand wie jeden Morgen und jeden Abend seit dem Verschwinden ihrer Nichte bei Sonnenaufgang vor der Tür des Ordenshauses und blickte zu den schneebedeckten Hängen der Berge hinauf. Irgendwann, irgendwo würde das Eis möglicherweise Idas erstarrten Körper wieder freigeben, aber die Antwort auf die Frage, warum sie einfach so auf und davon gegangen war, würde wohl für alle Zeiten dort oben ruhen.
Ylenia seufzte sacht und schickte sich an, ins
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