Anidas Prophezeiung
schrie mir aus luftlosen Lungen die Seele aus dem Leib, bis es mir endlich schwarz vor Augen wurde.
Anida
~ 11 ~
Ihren Aufstieg zum Gipfel in der tiefsten Schwärze der Nacht würde sie ihr Leben lang wie einen schweren Traum in Erinnerung behalten. Es war, als wäre sie bereits ihr ganzes Leben lang so gestiegen, nur ihren eigenen keuchenden Atem und das eisige, dünne Pfeifen des Windes im Ohr. Die Tränen, die der Wind aus ihren Augen trieb, gefroren in ihren Wimpern und auf ihren Wangen zu Eis. Inzwischen konnte sie weder ihre Finger noch ihre Zehen spüren. Ab und zu schielte sie auf ihre Nasenspitze, um sich zu versichern, dass sie noch an Ort und Stelle war, wenn auch blau vor Kälte.
Wurde es denn nie Tag? Im endlosen Himmel über ihr strahlten klar, fern und reglos die Sterne. Kein noch so zarter Schimmer deutete den Sonnenaufgang an. Sie blieb stehen, um zu verschnaufen. Keuchend stützte sie die Hände auf die Knie und ließ ermattet den Kopf hängen. Eine plötzliche Welle von Panik attackierte sie und ließ sie um ein Haar in den Schnee sinken. Was tat sie hier? Was um alles in der Welt hatte sie dazu getrieben, das Haus zu verlassen und mutterseelenalleine hier hinaufzusteigen? Sie sog zischend die brennend kalte Luft tief in ihre schmerzenden Lungen und kämpfte den Anfall nieder.
»Bei den Schöpfern, ich kann nicht weiter«, sagte sie laut und erschrak selbst darüber, wie heiser ihre Stimme klang.
Neben ihr tauchte lautlos ein massiger Schatten auf. Glühende, gelbe Augen starrten sie an. Sie fuhr herum, mit langsamen, trägen Bewegungen. Auch an ihrer anderen Seite leuchteten Augen, gelb, ruhig und klar. Die beiden Wesen wandten die Köpfe zum Hang und begannen den Aufstieg. Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern und folgte den Schatten, menschengroß und plump der eine, der andere kleiner und geschmeidiger. Sie hielten Schritt mit ihr. Irgendwann, als sie vor Entkräftung zu taumeln begann, stolperte sie gegen den Kleineren und griff Halt suchend in dichtes, wolliges Fell. Sie klammerte sich an ihn, und der mächtige Schneewolf wandte ihr geduldig seinen Kopf zu und wartete, bis sie wieder zu Atem kam.
»Es geht wieder«, keuchte sie und machte einen schwankenden Schritt und noch einen. Der riesige weiße Bär auf ihrer anderen Seite hob unruhig den schweren Kopf und sog die Luft ein. Sie klammerte sich an die dichte Halskrause des Wolfes und schleppte sich bergan.
Weiche Schwingen durchteilten lautlos die Luft, und tellergroße Augen blickten auf sie herab. Die riesige Schnee-Eule glitt schweigend vor ihnen her, als wollte sie ihr den Weg zeigen und gleichzeitig zur Eile anhalten. Sie schluchzte vor Erschöpfung und schwankte halb bewusstlos hin und her. Der Gipfel schien so weit entfernt zu sein wie zuvor, und sie musste ihn doch vor der Morgendämmerung erreichen.
»Ich schaffe es nicht«, krächzte sie und begann in die Knie zu sinken. Der Schneewolf wirbelte herum und sprang sie so wild an, dass sie ein Stück weit durch die Luft geschleudert wurde. Sie landete in einer einladend weichen und erstaunlich warmen Schneewehe und drückte ihr Gesicht hinein. Da war nur der Geruch von Schnee und Winterluft in ihrer Nase, und doch bewegten sich starke Muskeln unter ihr, und sie spürte, wie sie fortgetragen wurde, weiter den steilen Hang hinauf. Die Eule flog schweigend wie ein helles Gespenst vor ihnen her. Sie schloss die brennenden Augen und schlief auf dem schaukelnden Rücken des Bären ein.
Mitten in einem Kristallsaal stehend fand sie sich wieder. Leiser Gesang von hohen Stimmen erfüllte die Luft und hieß sie willkommen. Eine Zeit lang lauschte sie reglos und voller Sehnsucht, dann begann sie nach und nach den Sinn des wortlosen Gesangs zu verstehen.
Hüterin der Vielen, Schloss des Einen, sangen die Stimmen. Folge dem Herzen. Hüterin von Feuer, Bewahrerin des Einen. Folge der Musik.
Wie im Schlaf setzte sie die Füße voreinander und ging durch endlose kristallene Säle, die in unirdischem Licht erglühten. Ihr Blick drang ungehindert durch die Wände aus erstarrter Luft und sah nichts als weitere Fluchten aus Kristall, bis ihre Augen sich in der Unendlichkeit verloren. Die funkelnde, Farben sprühende, blitzende Pracht blendete sie. Mit zur Hälfte und schließlich gänzlich geschlossenen Augen ging sie weiter, die Hände tastend ausgestreckt. Es war, als wichen die Wände lautlos vor ihr zur Seite und ließen sie ungehindert durch den ganzen, ungeheuren Palast
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