Anidas Prophezeiung
bemerkte Ylenia nachdenklich. »Sie dürfte nicht aus Zufall in – Eddys Begleitung gewesen sein. Wann, denkst du, kann ich mit ihr sprechen?«
»Ich habe ihnen eine Suppe und einen Schlaftrunk gegeben. Diesen Dix musste ich dafür allerdings erst mal wieder aufwecken.« Gudren grinste. »Morgen, vielleicht auch übermorgen. Sie waren beinahe genauso erschöpft wie Ida.«
»Morgen«, murmelte Ylenia unzufrieden. »Du hast den Bogen wirklich raus, mich auf die Folter zu spannen, Heilerin!«
Gudren hob stumm den Becher und trank der angewidert dreinschauenden Hexe formvollendet zu.
Mit dem Ende des Winters trafen erneut beunruhigende Nachrichten im Ordenshaus ein. Die unheimliche, lautlose Ausdehnung der Grenze hatte sich während des Winters zwar etwas verlangsamt, war aber nicht zum Stehen gekommen. Zwei grenznahe Dörfer und einige Gehöfte waren aufgegeben worden. Ihre Bewohner mussten hilflos und ohne die Möglichkeit, etwas unternehmen zu können, zusehen, wie ihre Häuser und ihr Land von der Nebelwand verschlungen wurden.
Die Tetrarchen von Beleam und Seeland hatten ihre Garden zur Grenze ausgesandt, und der Hierarch schickte mehrere Gesandte in den Nebelhort – oder, genauer gesagt, er hatte versucht, Gesandte dorthin zu schicken. Entweder scheiterten sie schon an der Überquerung der Grenze, oder es gelang ihnen, und sie verschwanden im Nebelhort, ohne jemals wieder von sich hören zu lassen. Den Berichten des Hochmeisters Gareth zufolge, den der Hierarch zu sich in die Residenz gerufen hatte, wurde zur Zeit darüber beraten, die Garde des Hierarchen in den Hort zu schicken, um die schleichende Landnahme zu beenden – sobald man herausgefunden hatte, wie es zu bewerkstelligen war, eine Armee über die von dieser Seite aus immer noch undurchdringliche Grenzlinie zu bringen. Die Weiße Schwesternschaft durchforschte ihre Aufzeichnungen, um eine Lösung für dieses Problem zu finden und möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage, warum der Nebelhort nach Jahrhunderten des Friedens auf diese heimtückische Art die Hierarchie angriff.
Ylenia hatte kaum geschlafen, weil sie die Nacht im Archiv über alten Büchern und Schriftrollen verbracht hatte. Seit Sonnenaufgang saß sie an dem Antwortbrief auf das jüngste Schreiben des Hochmeisters Garem, mit dem sie sich wegen der Ereignisse des letzten Tages noch nicht gründlich genug hatte befassen können.
Gegen Mittag klopfte es, und Gudren riss, ohne ihre Einladung abzuwarten, die Tür zu ihrem Zimmer auf. »Falls es dich interessiert, deine Nichte ist gerade aufgewacht«, schmetterte sie und war auch schon wieder fort. Ylenia legte die Schreibfeder beiseite und erhob sich müde.
Ida saß in die Kissen gelehnt in ihrem Bett und blickte gebannt auf etwas nieder, das sie in ihrer Hand verborgen hielt. Als sie Ylenias Schritte hörte, schloss sie eilig die Finger darum und hob den Blick. Idas wechselhafte Augen strahlten in einem kalten, unirdischen Silberton. Sie sah ihre Tante ohne ein Zeichen des Erkennens an. Ihr schrecklicher Blick schien durch Ylenia hindurch bis an das Ende der Welt zu reichen.
»Ida«, rief die Hexe sie besorgt an. Sie setzte sich auf die Bettkante und berührte ihre Nichte behutsam an der Schulter.
Ida seufzte leise und schloss die Augen. Als sie sie nach einer Weile wieder öffnete, hatte sich ihre Farbe zu einem rauchigen Bernsteinton verdunkelt. »Tante Ylen«, sagte sie überrascht.
Ylenia legte stumm einen Finger zwischen die Augenbrauen der jungen Frau und schien auf etwas zu lauschen. Dann schüttelte sie den Kopf und lachte ärgerlich auf. »So magieblind wie eh und je. Wie fühlst du dich, Ida?«
Ida sah sie verdutzt an und lächelte ein wenig kläglich. »Wie man's nimmt. Ich bin ziemlich erledigt und habe einen mörderischen Muskelkater. Wie würdest du dich fühlen, wenn du einen ganzen Tag und eine ganze Nacht in den Bergen herumgeklettert wärst?«
Ylenia öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. »Einen ganzen Tag ...«, murmelte sie und stand vom Bett auf. Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite, stieß die beiden Flügel weit auf und trat schweigend beiseite, um Ida hinausblicken zu lassen. Ida warf einen Blick in den Garten, der im ersten zarten Grün stand, und starrte dann hilflos in Ylenias Gesicht.
»Du warst den ganzen Winter über fort, Kind«, sagte Ylenia sanft und griff nach Idas Hand. Ida erwiderte nichts, sah nur wieder stumm aus dem Fenster. Ihre Finger bebten leicht unter
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