Anidas Prophezeiung
behandelt und ihr einen Heiltrank eingeflößt, der sie hatte einschlafen lassen. Ylenia blickte gerührt auf das abgezehrte, zerschundene Gesicht ihrer Nichte hinab und streichelte vorsichtig ihre Hand, die auf der Decke ruhte. Idas Finger waren fest um etwas geschlossen, als habe sie Angst, dass jemand kommen und es ihr entreißen würde. Ylenia schüttelte sacht den Kopf und ging leise wieder hinaus. Gudren hatte gesagt, dass Ida mindestens bis zum nächsten Tag fest schlafen würde. Es galt jetzt Vorbereitungen für das Eintreffen des Rettungstrupps zu treffen.
Die Köchin scheuchte gerade ihre Gehilfinnen quer durch die Küche, um die von Gudren bestellte Brühe zu bereiten, da erschollen schon die Rufe von draußen: »Ylenia, wir haben sie!« Die Oberste Hexe überließ den Küchendienst seinem Elend und trat durch die Hintertür in den sonnenbeschienenen Hof hinaus. Gudren war bereits mit einer auf einer improvisierten Trage liegenden Gestalt beschäftigt. Zwei Fremde kauerten in Decken gehüllt neben dem Eingang und wurden von Gudrens Assistentinnen versorgt.
Clem, die Anführerin des Bergungstrupps, sah Ylenia auf die Gruppe zukommen und winkte ihr heftig und freudig. »Wir haben sie wirklich gefunden, Ylen«, rief sie und lachte über das ganze Gesicht. »Ist das nicht unglaublich? Wir haben sie gefunden!«
Ylenia runzelte die Stirn. Warum machte Clem, eine erfahrene Bergführerin, so ein Gewese um eine einfache Bergungsaktion wie diese? Sie streifte die beiden Fremden, einen dürren kleinen Mann und eine alte Grennach, mit einem flüchtigen Blick und trat dann zu Gudren an die Trage heran.
»Und?«, fragte sie. Gudren sah mit verwirrter Miene zu ihr auf und wich dann zur Seite, um ihr den Blick auf die daliegende Person zu ermöglichen. Auf der primitiven Trage lag Ida, bewusstlos, eine ihrer Hände fest um etwas geschlossen, als habe sie Angst, dass jemand kommen und es ihr entreißen würde.
»Was geht hier vor?«, fragte Ylenia verwirrt und aufgebracht.
Gudren zuckte mit den Achseln und bemerkte fatalistisch: »Wie auch immer, ich behandele sie jetzt einfach noch mal. Aber dann gehe ich und sehe nach, was da in Idas Zimmer liegt, das schwöre ich dir!« Sie drehte Ylenia den breiten Rücken zu und beugte sich wieder über die Trage.
Ylenia wandte sich ratlos um und fasste die beiden Fremden genauer ins Auge. Sie trugen seltsame und für eine Wanderung durch die Berge völlig ungeeignete Kleidung und waren von den Frauen in warme Felldecken gewickelt worden. Die Hexe trat zu ihnen, um sie nach ihren Namen und ihrer Reise zu befragen, und blieb zum wiederholten Mal an diesem Tag wie vom Donner gerührt stehen, als die alte Grennach-Frau müde den Kopf hob, um sie anzusehen. Sie öffnete den Mund, aber der Ausruf wurde ihr von den Lippen genommen.
»Tallis!«, schrie Mellis, die wie von einer Sehne abgeschossen aus dem Haus geeilt kam. Sie breitete die Arme aus und flog auf die alte Grennach zu, die trotz aller augenscheinlichen Erschöpfung aufsprang und ebenfalls weit die Arme ausbreitete. Ylenia blickte erheitert auf das Schauspiel der sich begrüßenden Grennach-Frauen und wandte ihre Aufmerksamkeit dann dem kleinen Mann zu, der immer noch auf der Bank hockte. Er musterte die Umgebung und die Frauen, die ihn und seine Reisegefährten umringten, mit einem geradezu kindlich staunendem Ausdruck in seinem hässlichen Gesicht. Dann fiel sein Blick auf Mellis' wehenden roten Schweif.
»Ich hab ja schon 'ne Menge komischer Leute in meinem Leben gesehen«, brummte er grinsend. »Aber so was wie das ...« Er verstummte, als ihm die Ähnlichkeit zwischen Mellis und Tallis auffiel. Unsicher zog er sich auf die Beine und trat zu den beiden Frauen, die in der weichen, zwitschernden Grennach-Sprache miteinander redeten, ohne sich dabei gegenseitig aus der Umarmung zu entlassen.
»Entschuldigung«, sagte der Mann höflich und etwas unsicher. Tallis wandte sich um und sah ihn lächelnd an. Dann lachte sie erheitert auf, als sie sah, wohin er blickte. Sie zwinkerte kurz und lüpfte den nassen Rocksaum. Er sagte immer noch höflich »Danke« und fiel dann in Ohnmacht.
»Der Mann, Dix, behauptet, sie hieße Eddy. Er kennt sie angeblich seit mehreren Jahren«, berichtete die müde Heilerin spät am Abend der Obersten Weißen Hexe. Beide saßen vor dem prasselnden Kaminfeuer, hatten die Füße hochgelegt und tranken heißen Würzwein.
»Ich hoffe, Tallis kann uns über diese Merkwürdigkeit aufklären«,
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