Anita Blake 09 - Herrscherin der Finsternis
in der Nähe, als fürchteten sie, er könnte flüchten. Doch er reckte sein Gesicht mit fast glückseligem Ausdruck Pinotl entgegen. Er hatte solche Angst gehabt, von Itzpapalotls unheimlichen Schwestern gefoltert zu werden, und schien jetzt völlig im Reinen damit zu sein, was sie gleich mit ihm tun würden. Ich ahnte, was es sein würde, und hoffte, dass ich mich irrte. Wenigstens einmal möchte ich mich irren, wenn ich mit etwas Grausigem rechne. Das wäre mal eine nette Abwechslung.
Es ging ganz unauffällig los. Es gab keine Flamme, kein Licht, nicht mal einen Schimmer. Auf Seths zwanzigjähriger Haut erschienen Falten. Die Muskeln begannen zu schrumpfen, als hätte er eine zehrende Krankheit. Doch was sonst Monate dauerte, passierte in Sekunden. Egal wie willig das Opfer ist, weh tut es trotzdem. Seth fing an zu schreien, so schnell wie er Luft holen konnte. Seine Lungen arbeiteten gut, der Schrei wurde kaum unterbrochen. Die Haut wurde dunkler und zog sich zusammen, als würde er ausgesaugt. Es war, als würde man die Luft aus einem Ballon rauslassen. Nur dass der Ballon Muskeln hatte und, wo sie verschwanden, Knochen zum Vorschein kam. Schließlich war nichts mehr da außer vertrockneter Haut auf Knochen, und Seth schrie noch immer.
Was Schreie anging, war ich über die Jahre quasi ein Kenner geworden. Ich hatte schon ein paar gute gehört, und manche davon waren meine eigenen gewesen, aber so etwas hatte ich noch nie gehört. Die Schreie verloren ihren menschlichen Klang und gingen in das hohe Geheul eines verwundeten Tieres über, und trotzdem hörte man noch heraus, dass darunter irgendwo ein Mensch steckte.
Am Ende bekam er nicht mehr genug Luft zum Schreien, aber der trockene, leere Mund öffnete und schloss sich weiter. Noch lange nachdem es nicht mehr schrie, wand sich das knochige Wesen und warf den Kopf hin und her.
Die ganze Zeit über hielt Pinotl Seths Gesicht in den Händen, und es sah sanft aus, doch er musste wohl mit aller Kraft zugreifen, denn er verlor für keinen Moment den Kontakt. Er hatte sich kein einziges Mal geregt, während dieses hübsche Gesicht in seinen Händen geschrumpft und vertrocknet war. Und auch Seth hatte nicht die Hand erhoben, um sich zu retten. Er hatte sich gewunden, weil er gar nicht anders konnte, solche Schmerzen litt er, aber er hatte sich nicht gegen den Mann gewehrt, der ihm das antat. Ein williges Opfer, ein geeignetes Opfer.
Mein Hals war eng, und hinter meinen Augen brannte etwas. Ich wollte, dass es aufhörte. Ich wollte, dass es sofort aufhörte. Das knöcherne Wesen, das einmal Seth gewesen war, zuckte und machte den Mund auf und zu, als wollte es etwas sagen.
Pinotl sah auf, unterbrach kurz den Blickkontakt mit Seth. Die Jaguarmänner, die ihn hereingebracht hatten, traten ins Licht. Einer hielt eine Nadel mit einem schwarzen Faden in der Hand. Der andere hielt eine hellgrüne Kugel, eine kleine, von der Größe einer Murmel. Hätte ich weiter hinten gesessen, hätte ich es nicht erkennen können: Sie war aus Jade. Die legte er in den Mund, und der Mund schloss sich. Der andere Jaguar nähte den Mund zu, trieb die Nadel durch die fleischlose Haut und zog den Faden fest.
Ich blickte auf den Tisch, ließ die Stirn auf den kühlen Stein der Tischplatte sinken. Ich wollte nicht ohnmächtig werden. Das war nicht meine Art. Aber mir schoss das Bild von Bacos Kreatur durch den Kopf, die er aus den Werwölfen gemacht hatte. Einigen war der Mund zugenäht worden. Solche Kräfte hatte ich noch nie gesehen. Es wäre ein zu großer Zufall, wenn zwei Leute in derselben Stadt so etwas vermochten, die angeblich nichts miteinander zu tun hatten.
Ramirez berührte meine Schulter. Ich hob den Kopf. »Es geht mir gut.« Ich blickte zur Bühne, als sie Seth in den Sarg steckten. Ich wusste, ohne einen Versuch, es erspüren zu wollen, dass ihm das alles bewusst war. Er konnte nicht gewusst haben, was er sie da tun ließ. Unmöglich. Oder?
Pinotl drehte sich zum Publikum um. In seinen Augen loderte ein schwarzes Feuer wie bei einem Vampir, wenn seine Macht am größten ist. Schwarze Flammen züngelten aus den Augenhöhlen, und seine Haut schien von innen zu leuchten.
Der mumifizierte Seth war mit demselben schwarz glitzernden Tuch bedeckt wie sein Vorgänger. Die Jaguare legten den Deckel auf den Sarg und verschlossen ihn. Ein kollektiver Seufzer ging durch den Saal, als wären alle erleichtert, dass er nicht mehr zu sehen
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