Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
ab. In den großen Händen hielt er eine Dose Soda oder vielleicht auch Bier. Nur eine kleine frühmorgendliche Stärkung.
»Das ist Shang-Da. Er ist unser zweiter Vollstrecker, der Hati. Jamil ist der Sköll.« Ah. Es dämmerte mir. »Er bewacht Richard, also kann die Polizeiwache nicht weit sein.«
Jason nickte.
Ich musterte den Mann, der sich in dem Liegestuhl lümmelte. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sonderlich wachsam. Er fiel fast nicht auf, bis man bemerkte, dass das T-Shirt nagelneu war. Die Jeans hatten Falten, als wären sie gebügelt worden, und die Bräune seiner Haut kam nicht allein von der Sonne. Aber erst als er den Kopf ganz langsam hob und uns geradewegs ansah, erkannte ich, wie gut der Mann war. Trotz der Entfernung spürte ich das Durchdringende seines Blicks, das mich fast nervös machte. Ich wusste, wir hatten seine volle Aufmerksamkeit, dabei hatte er nichts weiter getan, als den Kopf zu heben.
»Scheiße«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte Jason. »Shang-Da ist neu. Er ist aus dem San Franciscoer Rudel zu uns gekommen. Keiner hat ihn angegriffen, als er als Hati eingeführt wurde. So dringend wollte den Job dann auch keiner.«
Jason zeigte über die Straße. »Ist es das?«
Da stand ein niedriger Bau aus weiß gestrichenen Betonziegeln. Davor gab es einen kleinen Schotterparkplatz, auf dem kein einziger Wagen stand. Unser Van nahm den halben Platz ein. Ich parkte ihn so nah an der Seite, dass ich die Zweige über den Lack wischen hörte. Wahrscheinlich war irgendwo ein Polizeiwagen unterwegs, der sich dann neben mich stellen würde. Ich schätzte, dass noch genug Platz war.
Neben der Eingangstür hing ein kleines, elegant geschwungenes Holzschild, darauf stand Polizei. Mehr nicht, das war der einzige Hinweis. Nicht zu verfehlen - Jamil hatte Humor. Oder er war noch sauer, dass ich ihn geschnitten hatte. Wie kindisch.
Wir stiegen aus. Ich spürte Shang-Das Blick auf mir. Er war etliche Meter weit weg, doch die Macht seiner Aufmerksamkeit kroch mir über die Haut und richtete mir die Härchen auf. Ich sah zu ihm hinüber und begegnete kurz seinem Blick. Jetzt sträubten sich alle meine Nackenhaare.
Jason trat neben mich. »Lass uns reingehen.«
Ich nickte, und wir gingen auf die Tür zu. »Ich würde fast sagen, Shang-Da kann mich nicht leiden.« »Er ist Richard treu ergeben, und du hast ihm wehgetan, übel wehgetan.«
Ich sah ihn von der Seite an. »Du scheinst aber nicht auf mich wütend zu sein. Bist du Richard denn nicht treu ergeben?« »Ich war damals dabei, als er Marcus besiegt hat. Shang-Da nicht.«
»Soll das heißen, es war richtig, dass ich ihn verlassen habe?« »Nein. Es heißt, dass ich verstehe, warum du damit nicht klargekommen bist.« »Danke, Jason.«
Er lächelte. »Vielleicht habe ich ja Hintergedanken.« »Jean-Claude würde dich umbringen.« Er zuckte die Achseln. »Was ist das Leben ohne ein bisschen Gefahr?«
Ich schüttelte den Kopf.
Jason kam als Erster bei der Tür an, machte aber keine Anstalten, sie mir aufzuhalten. Er kannte mich zu gut.
Ich zog die verglaste Tür auf. Daran hätte man das Gebäude auch erkennen können. Alle anderen in der Straße hatten wohnliche Haustüren. Diese Glastür gehörte zu einem modernen Geschäftshaus. Drinnen war alles weiß gestrichen, einschließlich des langen Empfangstisches gegenüber der Tür. Am Nachrichtenbrett hingen ein paar Fahndungszettel und hinter dem Tresen ein Funkgerät. Aber davon abgesehen hätte es auch der Empfang einer Zahnarztpraxis sein können.
Der Kerl hinter dem Tresen war groß. Selbst im Sitzen wirkte er so. Seine Schultern waren noch einmal genauso breit. Seine Haare waren sehr kurz und trotzdem lockig. Er müsste sich den Kopf rasieren, wenn er die Locken loswerden wollte.
Meine Lizenz steckte in einem hübschen Kunstlederetui. Sie war mit meinem Foto versehen und wirkte topoffiziell, war aber keine Dienstmarke. Sie galt nicht einmal in diesem Bundesstaat. Aber mehr hatte ich nicht vorzuweisen, also zückte ich sie. Schon beim Reinkommen hielt ich sie vor mich, weil ich bewaffnet kam. Polizisten mögen das normalerweise nicht.
»Ich bin Anita Blake, Vampirhenker.«
Der Mann bewegte nur die Augen, seine Hände waren nicht zu sehen. »Wir haben keinen bestellt.«
»Ich bin nicht beruflich hier«, sagte ich. Ich stand vor seinem Schreibtisch und wollte die Lizenz einstecken, doch er streckte
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