Anleitung zum Alleinsein
(Sozialarbeiter schauen bei Alten und Armen vorbei, das Gesundheitsamt verlangt Impfungen, die Polizei zieht Erkundigungen wegen Gewalt in der Ehe ein), aber dieseEinmischungen sind nicht annähernd so stark wie die Kleinstadtschnüffeleien, die sie ersetzt haben.
Das «Recht, in Ruhe gelassen zu werden»? Es wird nicht ausgehöhlt, es explodiert. Es ist die
Essenz
der modernen amerikanischen Architektur, Landschaft, Fortbewegung, Kommunikation und herrschender politischer Philosophie. Der wahre Grund dafür, dass Amerikaner in puncto Privatsphäre so apathisch sind, ist so schlagend, dass man sich ducken muss: Wir
ertrinken
geradezu in Privatsphäre.
Bedroht ist daher nicht der private Bereich. Bedroht ist der öffentliche. Viel Wesens wurde darum gemacht, dass die Starr-Untersuchung auf künftige Bewerber um ein öffentliches Amt abschreckend wirken könnte (nur Eiferer und Nullen würden sich noch bewerben), aber das ist bloß die halbe Wahrheit. Die öffentliche Sphäre Washingtons gehört, da sie ja öffentlich ist, jedem. Wir alle sind angehalten, mit unserer Stimme, unserem Patriotismus, unserem Einsatz und unserer Meinung daran teilzuhaben. Das kollektive Gewicht einer Bevölkerung ermöglicht uns den Glauben an die öffentliche Sphäre als etwas, das größer, beständiger und ehrwürdiger ist, als jeder verschlampte Einzelne es in seinem privaten Umfeld sein kann. Doch so wie ein einziger Heckenschütze auf einem Kirchturm die Straßen einer ganzen Stadt leerfegen kann, kann diesen Glauben auch ein einziger fetter Skandal erschüttern.
Wenn Privatsphäre die Erwartung, nicht gesehen zu werden, voraussetzt, ist das, was den öffentlichen Raum definiert, die Erwartung, dass man gesehen wird. Mein «Verständnis von Privatsphäre» basiert darauf, dass das Öffentliche aus dem Privaten
und
das Private aus dem Öffentlichen herausgehalten wird. Eine Art Border Collie jault gequält in mir auf, wenn ich den Eindruck habe, die Grenze zwischen den beiden ist verletzt worden. Deshalb ist die Verletzung eines öffentlichen Raums, vom Empfinden her, der Verletzung der Privatsphäre ganz ähnlich. Ich gehean einem Mann vorbei, der am helllichten Tag auf den Gehsteig pinkelt (Lieferwagenfahrer können in ihrer «Das muss raus»-Philosophie des Blasenmanagements besonders selbstgerecht sein), und obwohl der Mann mit dem klaffenden Hosenladen scheinbar der ist, dessen Privatsphäre durch das Pinkeln verletzt wird, bin ich doch derjenige, der den Übergriff verspürt. Flitzer, sexuelle Belästiger und Felliererinnen am Pier und Redenschwinger im Bus attackieren alle gleichermaßen unser Verständnis des «Öffentlichen», indem sie sich entblößen.
Da eine richtig schwerwiegende Entblößung in der Öffentlichkeit heutzutage als Synonym für einen Auftritt im Fernsehen angesehen wird, könnte man daraus folgern, dass ein vom Fernsehen übertragener Raum der öffentlichste überhaupt ist. Vieles aber, was Leute im Fernsehen zu mir sagen, würde an einem wirklich öffentlichen Ort – auf einer Geschworenenbank beispielsweise oder auch nur auf einem Gehsteig in der Stadt – niemals geduldet. Das Fernsehen ist eine riesige, verästelte Erweiterung der Milliarden Wohn- und Schlafzimmer, in denen es konsumiert wird. In der U-Bahn hört man kaum jemanden laut über, sagen wir, Inkontinenz sprechen, im Fernsehen dagegen geschieht das seit Jahren. Das Fernsehen kennt keine Scham, und ohne Scham kann es keine Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem geben. Letzten Winter schaute mir eine Moderatorin in die Augen und bezeichnete im Ton einer nahen Verwandten einen Wurf Babys in Iowa als «Amerikas sieben süße Kleine». Schon vor fünfundzwanzig Jahren war es ziemlich seltsam, Dan Rathers Berichte über Watergate zwischen Werbespots für Geritol und Aspirin zu hören, so als wäre Nixons bevorstehender Rücktritt irgendwo in meinem Medizinschrank angesiedelt. Heute, aufgereiht zwischen Werbung für Promise-Margarine und Nobelkreuzfahrten, sind auch die Nachrichten ein beflecktes Cocktailkleid – ist das Fernsehen die Schlafzimmerbühne und sonst nichts.
Derweil ist Zurückhaltung zu einer veralteten Tugend geworden. Bereitwillig wird heute über Krankheiten, Miete, Antidepressiva gesprochen. Bei der ersten Verabredung wird die sexuelle Vorgeschichte breitgetreten, am legeren Freitag infiltrieren Birkenstock-Schlappen und abgeschnittene Jeans das Büro, Telearbeit verlegt das Sitzungszimmer ins Schlafzimmer,
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