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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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die Bedeutung meiner beiden Tankfüllungen und meines Eimers Latexfarbe nachdenken wollte.
    Und da liegt das Problem. An dem Samstagmorgen, als der Starr-Bericht veröffentlicht wurde, war meine Privatsphäre nach klassisch liberaler Auffassung absolut intakt. Ich war allein und unbeobachtet in meiner Wohnung, ungestört von Nachbarn, unerwähnt in den Nachrichten und frei in der Entscheidung, den Bericht, sofern ich wollte, zu überblättern und das Samstagskreuzworträtsel zu lösen, das angenehm
al dente
war, und dennoch verletzte die bloße Existenz des Berichts mein Verständnis von Privatsphäre so sehr, dass ich mich kaum überwinden konnte, die Zeitung anzufassen. Zwei Tage später wurde ich in meiner Wohnung von einem klingelnden Telefon aufgestört, gebeten, den Mädchennamen meiner Mutter auszuspucken, und mit der Nase darauf gestoßen, dass die digitalisierten Details meines Alltagslebens unter Beobachtung von Fremden standen, doch binnen fünf Minuten hatte ich diese ganze Episode aus meinem Gedächtnis getilgt. Ich glaubte meine Privatsphäre bedroht, als ich ganz offensichtlich sicher war, und glaubte mich sicher, als meine Privatsphäre ganz offensichtlich bedroht wurde. Und ich wusste nicht, warum.
     
    Das Recht auf Privatsphäre – 1890 von Louis Brandeis und Samuel Warren als «das Recht, in Ruhe gelassen zu werden» definiert – scheint auf den ersten Blick im amerikanischen Alltag ein Grundprinzip zu sein. Es ist der Schlachtruf von Aktivisten für Abtreibung und Fortpflanzungsrechte, gegen Stalker, für das Recht, in Würde zu sterben, gegen eine nationale Datenbankim Bereich Gesundheitsfürsorge, für strengere Standards bei der Datenverschlüsselung, gegen Paparazzi, für die Unantastbarkeit privater E-Mails am Arbeitsplatz und gegen von Arbeitgebern verordnete Drogentests. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Privatsphäre jedoch als Lewis Carroll’sche Grinsekatze der Werte: ein sehr gewinnendes Lächeln, aber wenig Substanz.
    Rein rechtlich ist der Begriff ein einziges Durcheinander. Die Verletzung der Privatsphäre ist der emotionale Kern vieler Vergehen, von sexueller Belästigung und Vergewaltigung bis hin zum Spannertum und Hausfriedensbruch, doch kein Strafgesetz verbietet sie als solche. Das amerikanische Zivilrecht unterscheidet sich von Staat zu Staat, folgt jedoch im Wesentlichen einer vierzig Jahre alten Studie des Rechtsgelehrten Dean William Prosser, der die Verletzung der Privatsphäre in vier Delikte gliederte: die
Störung
eines Rückzugsraums, das Öffentlichmachen
privater Tatsachen
, die nicht von berechtigtem öffentlichem Interesse sind, die Art von öffentlicher Darstellung, die einen in ein
falsches Licht
rückt, und die
Aneignung
von jemandes Namen oder Aussehen ohne dessen Zustimmung. Das ist eine wackelige Aufzählung von Delikten. Störung sieht ziemlich nach Hausfriedensbruch aus, falsches Licht nach Verleumdung und Aneignung nach Diebstahl, und der Schaden, der bleibt, wenn man diese hier irrelevanten Vergehen außer Acht lässt, ist in der Wendung «Zufügung von emotionalem Leid» so hervorragend ausgedrückt, dass es das Delikt der Verletzung der Privatsphäre fast überflüssig macht. Was die Privatsphäre in Wahrheit stützt, ist der klassische liberale Grundsatz persönlicher Freiheit oder Autonomie. Seit einigen Jahrzehnten sprechen viele Richter und Wissenschaftler lieber von einer «Privatsphäre» als von einer «Sphäre der Freiheit», doch das ist eine Akzentverschiebung, kein substantieller Unterschied: Es ist nicht die Schaffung einer neuen Rechtsauffassung, sondern die Umverpackung und Wiedervermarktung einer alten.
    Egal, was man verkaufen will, ob Luxusimmobilien oderEsperanto-Unterricht, es hilft, wenn man das lächelnde Wort «privat» an seiner Seite hat. Vergangenen Winter wurde mir als dem Inhaber einer Platinum Visa Card der Bank One die Mitgliedschaft bei PrivacyGuard ® angeboten, einer Serviceleistung, die mich dem Prospekt zufolge, der sie anpries, «über die ganz persönlichen Daten
in Kenntnis setzt
, auf die Ihr Arbeitgeber, Ihre Versicherer, Kreditkartenunternehmen und Behörden Zugriff haben». Die ersten drei Monate bei PrivacyGuard ® waren kostenlos, also unterschrieb ich. Was dann mit der Post kam, war Schreibarbeit: Umschläge und Antragsformulare zur Ermittlung gespeicherter Daten über meine Kreditwürdigkeit und andere Sachverhalte, dazu ein enttäuschend wenig hermachendes Notizbuch, in das ich die Ergebnisse

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