Anleitung zum Alleinsein
Er sei erst dreiunddreißig, hat er, glaube ich, gesagt, aber es war nur schwer zu verstehen, was er von sich erzählte, weil er genaugenommen gar nicht mehr reden konnte, bloß wieder und wieder die Lippen um die sich vorreckende Zunge spannte und ächzte.
Für ihn war alle Verstellung vorbei! Er war uneingeschränkt und sichtlich fertig mit der Welt. Während wir andern uns weiter was vormachen.
In einem von Küste zu Küste reichenden, plüschig ausgelegten Riesenschlafzimmer könnten wir alle einfach nur fertig mit der Welt sein und uns die Mühe sparen, uns zu verstellen. Aber wer will schon in einer Welt der Pyjamapartys leben? Die Privatsphäre verliert ihren Wert, wenn es nichts gibt, wovon sie sich abgrenzen lässt. «Während wir andern uns weiter was vormachen» – unddas ist auch gut so. Das Bedürfnis, ein öffentliches Gesicht aufzusetzen, ist so grundlegend wie das Bedürfnis nach einer Privatsphäre, in der wir es ablegen können. Wir brauchen ein Zuhause, das nicht wie ein öffentlicher Raum ist, und einen öffentlichen Raum, der nicht wie das Zuhause ist.
Wenn ich samstagabends die Third Avenue entlanggehe, spüre ich, dass mir etwas genommen worden ist. Um mich herum beugen sich attraktive junge Menschen mit geschäftiger Miene über ihre StarTacs und Nokias, als befühlten sie einen schmerzenden Zahn oder rückten ein Hörgerät zurecht oder betasteten einen gezerrten Muskel; direkt am Körper getragene Technologie sieht neuerdings wie eine Körperbehinderung aus. Gehsteige sind für mich eigentlich nur der Ort des Sehens und Gesehenwerdens, doch selbst diese bescheidene Vorstellung wird von Handy-Benutzern mit ihrer unwillkommenen Privatsphäre durchkreuzt. Sie sagen Sachen wie: «Sollen wir dazu Couscous essen?», und: «Ich bin grad auf dem Weg zu ’nem Videoladen.» Sie brechen kein Gesetz, indem sie diese Frühstückstischgespräche in den Äther schicken. Es gibt kein PublicityGuard, dessen Mitglied ich zum Schutz vor dem Überhandnehmen des Privaten werden könnte, kein teures Öffentliches-Leben-Reservat, in dem ich Zuflucht fände. Abgeschiedenheit, sei es in einer Suite im Plaza oder einer Hütte in den Catskills, ist vergleichsweise mühelos zu haben. Die Privatsphäre ist als Gut wie auch als Recht geschützt; öffentliche Foren sind es weder als das eine noch das andere. Wie alte, unberührte Wälder sind sie selten und unersetzbar und sollten von jedermann treuhänderisch verwaltet werden. Die Aufgabe, sie zu erhalten, wird allerdings desto schwieriger, je fordernder, zerstreuender und einschüchternder der private Sektor ist. Wer hat schon die Zeit und die Kraft, für den öffentlichen Bereich einzutreten? Welches rhetorische Großaufgebot wäre der amerikanischen Vergötterung der «Privatsphäre» gewachsen?
Wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit in meine Wohnungzurückkehre, mache ich nicht gleich Licht. Im Lauf der Jahre ist das bei mir zu einer reflexhaften Vorsichtsmaßnahme geworden, da ich Nachbarn, die sich unbeobachtet wähnen, nicht dadurch erschrecken möchte, dass ich mein Wohnzimmer mit Licht durchflute, auch wenn die einzige Tätigkeit, bei der ich sie überrasche, offenbar fernsehen ist.
Meine hautbewusste Nachbarin und ihr Mann sind heute Abend zu Hause und machen sich anscheinend für eine Party zurecht. Die Frau, von der ein vertikaler Streifen zwischen Jalousie und Fensterrahmen sichtbar ist, trägt einen Bademantel und eine Haarspange und sitzt vor einem Spiegel. Der Mann, die Haare glatt gestriegelt, in Anzughose und weißem T-Shirt , steht im anderen Zimmer neben dem Sofa und sieht in einer Haltung fern, die ich als unbeteiligt deute. Dann verschwindet die Frau im Schlafzimmer. Der Mann zieht sich ein weißes Hemd an, bindet sich eine Krawatte um und hockt sich im Damensitz auf die Armlehne der Couch, noch immer fernsehend, nun interessierter. Die Frau kommt in einem trägerlosen gelben Kleid zurück und sieht wie ein völlig anderes Wesen aus. Wie schön, diese Verwandlung! Wie schön der Unterschied zwischen privat und öffentlich! Ich sehe ein flinkes Hantieren mit Schmuck, Jacken und Handtäschchen, und dann wagt sich das Paar, nun ganz in Schale geworfen, hinaus in die Welt.
(1998)
Wozu der Aufwand?
(Der
Harper’s
-Essay)
M eine Verzweiflung über den amerikanischen Roman setzte im Winter 1991 ein, als ich nach Yaddo flüchtete, die Künstlerkolonie im Staat New York, um die letzten beiden Kapitel meines zweiten Buchs zu schreiben.
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