Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
Vom Netzwerk:
Kurz davor hatten meine Frau und ich uns getrennt, und ich führte ein Leben selbstauferlegter Einsamkeit in New York City, verbrachte lange Arbeitstage in einem kleinen weißen Zimmer, packte gemeinsamen Besitz aus zehn Jahren zusammen und unternahm nächtliche Spaziergänge auf Straßen, in denen zu gleichen Teilen Russisch, Hindi, Koreanisch und Spanisch gesprochen wurde. Doch selbst im tiefsten Queens erreichten mich Nachrichten übers Fernsehen und meine abonnierte
Times
. Das Land bereitete sich ekstatisch auf einen Krieg vor, und die einschlägigen Phrasen lieferte George Bush: «Es geht um lebenswichtige Prinzipien.» Wegen der neunundachtzigprozentigen Zustimmungsrate für Bush, aber auch wegen des nahezu vollständigen Ausbleibens öffentlich formulierter Kriegsskepsis erschienen mir die Vereinigten Staaten hoffnungslos losgelöst von jeglicher Realität – gefangen in einem Traum vom Ruhm durch die Massakrierung gesichtsloser Iraker, einem Traum von nie versiegenden Ölquellen für stundenlange Pendlerfahrten, einem Traum von der Aufhebung historischer Gesetze. Also träumte ich von Flucht. Ich wollte mich vor Amerika verstecken. Doch als ich dann in Yaddo eintraf und erkannte, dass es kein Refugium war – die
Times
kam täglich, und die anderen Kolonisten unterhielten sich unablässig über Patriot-Raketen und die gelben Denkt-an-die-kämpfende-Truppe-Schleifen   –, fand ich zunehmend, dass ich eigentlich ein Kloster brauchte.
    Eines Nachmittags stieß ich in der kleinen Bibliothek vonYaddo auf Paula Fox’ Kurzroman
Was am Ende bleibt
und las ihn. «Sie würde problemlos davonkommen!» ist die Hoffnung, die die Hauptfigur des Romans, Sophie Bentwood, erfüllt, eine kinderlose, mit einem konservativen Anwalt unglücklich verheiratete Frau aus Brooklyn. Sophie übersetzte früher einmal französische Romane; jetzt ist ihre Stimmung so gedrückt, dass sie sie kaum noch lesen kann. Gegen den Rat ihres Mannes Otto hat sie einer streunenden Katze Milch gegeben, und die Katze hat ihr diese Freundlichkeit damit vergolten, dass sie ihr in die Hand gebissen hat. Sogleich fühlt Sophie sich «lebensgefährlich verwundet» – sie wurde «grundlos» gebissen, genau wie Josef K. in
Der Prozess
grundlos verhaftet wird   –, doch als die Schwellung ihrer Hand zurückgeht, ist sie ganz ausgelassen vor Hoffnung, dass ihr die Tollwutspritze erspart bleibt.
    Sie will «davonkommen», und zwar nicht nur mit ihrer maßlosen Freundlichkeit der Katze gegenüber. Sie möchte auch ohne Konsequenzen die mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romane lesen und
omelettes aux fines herbes
essen können – in einer Straße, wo Obdachlose in ihrem eigenen Erbrochenen liegen, und in einem Land, das einen schmutzigen Krieg in Vietnam führt. Sie möchte, dass ihr der Schmerz erspart bleibt, sich eine Zukunft jenseits von ihrem Leben mit Otto vorzustellen. Sie möchte weiterträumen. Doch die Logik des Romans lässt das nicht zu. Stattdessen wird sie gezwungen, zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen eine Parallele zu ziehen:
     
    Mein Gott, wenn ich tollwütig bin, dann bin ich genauso wie die Welt da draußen
, sagte sie laut und verspürte eine außerordentliche Erleichterung – so, als hätte sie endlich herausgefunden, was ein Gleichgewicht schaffen könne zwischen der Abfolge ruhiger, ziemlich unausgefüllter Tage, die sie in diesem Haus verbrachte, und jenen Vorzeichen, die die Finsternis am Rande ihrer eigenen Existenz aufhellten.
     
    Was am Ende bleibt
, 1970 unter dem Titel
Desperate Characters
erschienen, endet mit einem Akt prophetischer Gewalt. Unter der Last seiner sich auflösenden Ehe zusammenbrechend, nimmt Otto Bentwood ein Tintenfass von Sophies Schreibsekretär und schleudert es an die Schlafzimmerwand. Die Tinte, mit der seine juristischen Bücher und ihre Übersetzungen geschrieben worden sind, bildet nun einen unleserlichen Fleck. Die schwarzen Linien an der Wand sind sowohl Zeichen des Verhängnisses als auch Vorboten einer außerordentlichen Erleichterung, das Ende einer fiebrigen Isolation.
     Durch die Gleichsetzung einer bröckelnden Ehe mit einer bröckelnden Gesellschaftsordnung sprach
Was am Ende bleibt
genau die Ambivalenzen an, die ich in jenem Januar erlebte. War es gut oder war es schrecklich, dass meine Ehe in die Brüche ging? Und war der Kummer, den ich verspürte, die Folge einer inneren Krankheit der Seele, oder wurde er mir von der Krankheit der Gesellschaft auferlegt? Dass

Weitere Kostenlose Bücher