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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Sexualstraftäter in ihrer Nachbarschaft, Alkoholkontrollen im Straßenverkehr, Dopingtests im Hochschulsport, Gesetze zum Schutz des ungeborenen Lebens, Gesetze zum Schutz der Natur, Messung von Autoabgasen, Leibesvisitation in Bezirksgefängnissen, selbst Kenneth Starrs Enthüllung präsidialer Verderbtheit – sind im Grunde Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwohls. Überwachungskameras am Washington Square lehne ich ab, die in U-Bahnhöfen begrüße ich. Das Risiko, dass jemand mein Maut-Konto anzapft, erscheint mir erträglich gering, verglichen mit dem Plus an Bequemlichkeit. Ebenso das Risiko, dass ein Klatschblatt mich zum Opfer des Ersten Verfassungszusatzes, insbesondere der Pressefreiheit macht; bei zweihundertsiebzig Millionen Bewohnern dieses Landes tendiertdas Risiko eines Einzelnen, vor der ganzen Nation entblößt zu werden, gegen null.
    Der Rechtsgelehrte Lawrence Lessig hat die Amerikaner als «einfältig» bezeichnet, weil sie derartige Berechnungen anstellen und sich damit in die, wie er das nennt, «Sowjetisierung» des Privatlebens fügen. Das Seltsame an der Privatsphäre ist jedoch, dass wir sie, einfach indem wir sie voraussetzen, zumeist auch herstellen können. Eine meiner Nachbarinnen im Wohnblock gegenüber verbringt viel Zeit damit, vor dem Spiegel ihre Poren zu untersuchen, und ich sehe sie, so wie sie gewiss auch manchmal mich sehen kann. Doch unsere jeweilige Privatsphäre bleibt so lange intakt, wie keiner von uns
spürt
, dass er gesehen wird. Wenn ich eine Postkarte mit der amerikanischen Post verschicke, ist mir recht vage bewusst, dass Postbedienstete sie lesen können, sie vielleicht laut lesen, vielleicht sogar darüber lachen, und dennoch entsteht mir kein Schaden, es sei denn, ich habe das Pech, dass irgendwo im Land ein Zusteller, den ich kenne, die Postkarte sieht, sich an die Stirn schlägt und sagt: «O Mann, den kenn ich doch.»
     
    Unsere Angst vor dem Verlust der Privatsphäre ist nicht bloß übertrieben. Sie gründet auch auf einem Trugschluss. Ellen Alderman und Caroline Kennedy fassen in ihrem Buch
The Right to Privacy
die herkömmliche Überzeugung der Privatsphärenverfechter wie folgt zusammen: «Es gibt weniger Privatsphäre als früher.» Diese Behauptung ist so oft, in so vielen Büchern, Leitartikeln und Talkshow-Studios, aufgestellt oder als Grundkonsens vorausgesetzt worden, dass die Amerikaner jetzt, egal, wie passiv sie in ihrem Verhalten sind, bei Umfragen pflichtschuldigst angeben, sie seien um den Erhalt der Privatsphäre sehr besorgt. Von nahezu jeder historischen Perspektive aus betrachtet, ist diese Behauptung jedoch bizarr.
    Um 1890 lebte der typische Amerikaner in einer Kleinstadt unter Bedingungen nahezu panoptischer Überwachung. Nicht nur wurde jede Anschaffung von der Registrierkasse «registriert», sie wurde es auch von den Augen und in der Erinnerung der Ladenbesitzer, die ihn kannten, seiner Eltern, seiner Frau und seiner Kinder. Er konnte nicht einmal zum Postamt gehen, ohne dass seine Nachbarn jeden seiner Schritte verfolgten und ergründeten. Wahrscheinlich schlief er in jungen Jahren mit seinen Geschwistern und womöglich auch mit seinen Eltern in einem Bett. War er nicht gerade wohlhabend, war sein Fortbewegungsmittel – ein Zug, ein Pferd, seine Beine – entweder ein kommunales, oder es setzte ihn den Blicken anderer aus.
    In der Vorstadt und im Speckgürtel, wo der typische Amerikaner heute lebt, bewohnen kleine Kernfamilien riesige Häuser, in denen jeder sein eigenes Zimmer und manchmal auch Badezimmer hat. Selbst verglichen mit den Vorstädten der sechziger und siebziger Jahre, als ich aufwuchs, bietet die zeitgenössische Eigentumswohnung oder bewachte Siedlung ein bemerkenswertes Maß an Anonymität. Dass man seine Nachbarn kennt, ist nicht mehr die Regel. Die Gemeinden sind immer häufiger virtuell, ihre Einwohner entweder gesichtslos oder darauf bedacht, ihr Gesicht, mit dem sie sich in der Öffentlichkeit zeigen, unter Kontrolle zu haben. Die Fortbewegungsmittel sind weitgehend privat: Die neuesten Geländewagen sind groß wie ein Wohnzimmer und verfügen über Telefon, C D-Player und Fernseher; hinter den getönten Scheiben eines jener hohen, mobilen PrivacyGuard ® -Einheiten der Ich-sehe-dich-aber-du-siehst-mich-nicht-Art kann man im Schlafanzug oder Lakritzbikini sitzen, ohne dass es jemand mitbekommt oder interessiert. Mag sein, dass die Regierung sich in die Familie ein wenig stärker einmischt als vor hundert Jahren

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