Anleitung zum Alleinsein
Romanschriftsteller unserer Zeit ertragen das Dunkel nicht nur, sondern suchen es von sich aus auf. «Alles in der Kultur spricht gegen den Roman», sagte Don DeLillo in einem Interview mit der
Paris Review.
«Deshalb brauchen wir den widerständigen Autor, den Romanschriftsteller, der gegen die Macht anschreibt, der gegen die Unternehmen anschreibt oder gegen den Staat oder den ganzen Anpassungsapparat.»
Der moderne Gedanke des widerständigen Autors hat eine lange schon bestehende Tradition, und seine modernen Varianten gibt es mindestens seit dem Ersten Weltkrieg, als Karl Kraus sich als das «hoffnungslose Gegenteil» des Nexus aus Technologie, Medien und Kapital beschrieb. Etwas, das länger gebraucht hat, um sich herauszubilden, aber einem Werk wie den
Gutenberg-Elegien
innewohnt, ist der Gedanke des widerständigen
Lesers
. Der Elitismus der Literatur ist insofern paradox, als er völlig frei wählbar ist. Jedem, der lesen kann, steht es frei, daran teilzuhaben. Und indem die Informationselite sich weiterhin Lesebildung einimpft, wird es nicht ausbleiben, dass ein gewisser Prozentsatz der Leser wie der berühmte Marijuana-Raucher nach härteren Sachen süchtig wird. Auch werden ruhelose Seelen, je mehr sich die Reihen der Übergangenen mit Absteigern füllen, noch mehr Anlass haben, sich Methoden des Widerstands zu überlegen – «ein Anderswo zu postulieren», wie Birkerts das Lesen beschreibt, «und sich dorthin aufzumachen». Die scheinbare Demokratie der heutigen digitalen Netzwerke ist ein Artefaktaus der Zeit, als sie noch in den Kinderschuhen steckten. Früher oder später bewegen sich alle gesellschaftlichen Organismen von der Anarchie zur Hierarchie, und welche Ordnung sich aus dem Urchaos des Internets auch herausbildet, sie wird ebenso wahrscheinlich dystopisch wie utopisch sein. Besonders dräuend ist die Möglichkeit endloser Langeweile. Doch selbst wenn die digitale Revolution sich zu einer Freier-Markt-Version des stalinistischen Totalitarismus entwickelt, zu der die bolschewistische Revolution geführt hat, könnte der folgewidrige Effekt auch ein neuer, verbesserter Status des Lesens sein. Die Welt des Samisdat, die Entfaltung einer Leserschaft, die die gesamte Lyrik Ossip Mandelstams und Anna Achmatowas auswendig lernte, sollte uns in Erinnerung rufen, dass das Lesen im Exil überdauern und sogar gedeihen kann.
Keineswegs nur Negroponte, der nicht gern liest, sondern selbst Birkerts, der das Ende der Geschichte voraussieht, unterschätzen die Instabilität der Gesellschaft und die ungebärdige Vielfalt ihrer Mitglieder. Die elektronische Apotheose der Massenkultur hat den Elitismus des literarischen Lesens, der während der Blütezeit des Romans nur überdeckt war, lediglich neu bestätigt. Ich trauere um den Niedergang der kulturellen Autorität, die die Literatur einst hatte, und ich verwünsche den Beginn eines Zeitalters, das so unruhig ist, dass das Vergnügen an einem Text immer schwerer zu bewahren ist. Vermutlich werden nicht viele andere ihren Fernseher weggeben. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es lange aushalten werde, ohne mir einen neuen anzuschaffen. Aber das Erste, was das Lesen bietet, ist eine Anleitung zum Alleinsein.
(1995)
Die erste Stadt
Z wei Dinge, die dieses Jahr passiert sind, haben in mir die Frage aufgeworfen, warum amerikanische Städte im Allgemeinen und New York im Besonderen überhaupt noch existieren. Das erste war ein Flug von St. Louis zurück an die Ostküste. Ich saß neben einer eleganten, freundlichen Frau aus Springfield, Missouri, die mit ihrem elfjährigen Sohn auf dem Weg zu Verwandten in Boston war. Der Sohn hatte bei mir schon Punkte gemacht, als er statt eines Gameboy ein Buch aus seinem Rucksack zog, und als seine Mutter mir erzählte, sie würden noch zwei Tage in New York verbringen und es sei das erste Mal für ihren Sohn, fragte ich sie, was sie denn besichtigen wollten. «Wir wollen ins Fashion Café», sagte sie, «und wir wollen versuchen, in die
Today -Show
reinzukommen. Da ist doch so ein Fenster, vor dem man stehen kann? Mein Sohn möchte da hin.» Ich sagte, von diesem Fenster hätte ich noch nicht gehört und es klinge wirklich interessant, aber was denn mit der Freiheitsstatue und dem Empire State Building sei? Die Frau sah mich komisch an. «Wir würden zu gern auch zu
Letterman
gehen», sagte sie. «Meinen Sie, man kriegt da überhaupt Karten?» Ich sagte, Hoffnung gebe es immer.
Das zweite, das mir passierte,
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