Anleitung zum Alleinsein
bestätigen: «Lesen
ist
ein Urteil. Es brandmarkt die Begriffeund Prioritäten, die das gewöhnliche Leben bestimmen, als ungenügend.» Hätte er bei der unumstößlichen Tatsache aufgehört, dass Literatur nicht auf jeden Menschen Reiz ausübt, dann wären die
Gutenberg-Elegien
ein unangreifbarer, wenn auch ungehörter Lobgesang geworden. Doch weil Bücher ihm das Leben gerettet haben und er die Vorstellung einer Welt ohne sie nicht ertragen kann, gerät er in den Bann einer anderen, populäreren Verteidigung der Kunst. Der Verteidigung mit dem Stipendienantrag, derjenigen also, die Elitismus meidet. Grob gesagt, Technologie ist bloß Palliativ, Kunst dagegen Therapie.
Ich gestehe, dass mich dieses Argument ins Schwanken bringt. Deshalb habe ich auch meinen Trinitron weggeschafft und mich den Büchern zurückgegeben. Aber das möchte ich eher für mich behalten. Unglückliche Familien mögen glücklichen, deren Glück immer gleich ist, ästhetisch überlegen sein, «dysfunktionale» dagegen sind es nicht. Es war leicht, einen Roman über das Unglück zu verteidigen; jeder war schon einmal unglücklich, es gehört zum Menschsein dazu. Ein Roman über eine emotionale Dysfunktion jedoch wird reduziert auf einen Manichäismus der Nützlichkeit. Entweder ist er ein finsterer Befähiger, der das Gesunde blockiert, indem er das Pathologische feiert, oder er ist Anschauungsmaterial, das dem Leser hilft, die eigene Dysfunktion zu verstehen und zu überwinden. Besessenheit vom Gemeinwohl erzeugt eine ähnliche Vulgarität: Ist ein Roman nicht Teil einer politischen Lösung, muss er Teil des Problems sein. Der Doktorand, der Joseph Conrad als Kolonialisten «entlarvt», ähnelt der Schulbehörde, die Holden Caulfield als schlechtes Rollenbild verbannt – aber er ähnelt leider auch Birkerts, dessen Drang, das Lesen zu verteidigen, aus seiner Annahme erwächst, Bücher müssten uns irgendwie «dienen».
Ich mag Romane ebenso sehr wie Birkerts, und auch ich habe mich schon von ihnen gerettet gefühlt. Sein Plädoyer als Lobbyist in Sachen Literatur für eine intellektuelle Unterstützungseines Mandanten rührt mich. Doch Romanautoren wollen, dass ihre Arbeit genossen und nicht wie Medizin eingenommen wird. Den Niedergang des Romans teuflischen Technologien und verräterischen Literaturkritikern zuzuschreiben, wie Birkerts es tut, wird den Schaden nicht beheben. Ebenso wenig das Argument, dass das Lesen uns bereichert. Wenn Romanautoren wollen, dass ihre Werke gelesen werden, liegt die Verantwortung dafür, dass sie interessant und bezwingend sind, ausschließlich bei ihnen.
Bestehen bleibt der bittere Umstand, dass, wie Birkerts schreibt, «das Alltagsleben des Durchschnittsamerikaners für den Romanschriftsteller zu Teflon geworden ist». Früher einmal bewohnten Figuren Spannungsfelder hinsichtlich Status und Geographie. Heute ist ihre Welt zunehmend binär. Entweder man hat, oder man hat nicht. Man ist funktional oder dysfunktional, man ist vernetzt oder vergrätzt. Unglückliche Familien sind, vielleicht mehr noch als glückliche, alle gleichermaßen mit CNN, dem
König der Löwen
und America Online verbunden. Dabei geht es um mehr als nur kulturelle Bezüge, es ist vielmehr die Struktur ihres Lebens selbst. Und da Romane nun einmal von der Realisierung komplexer Figuren vor dem Hintergrund einer breiteren Gesellschaft leben, wie schreibt man dann einen, wenn der Hintergrund vom Vordergrund nicht zu unterscheiden ist?
«Literatur», so Birkerts, «bewahrt sich seine kulturelle Vitalität nur so lange, wie sie dem Leser bedeutungsvolle Neuigkeiten darüber bringen kann, was es heißt, in der Welt der Gegenwart zu leben.» Dabei denkt er an vielgelesene Großleinwandromane von Tolstoi und Dickens, Bellow und Steinbeck, und tatsächlich gibt es wohl kaum Zweifel daran, dass das Genre denselben Weg wie die Shakespeare-Tragödie und die Verdi-Oper nimmt. Doch die Nachricht vom Dahinscheiden des Genres ist vielleicht wenigerbedeutsam, als Birkerts meint. Das Publikum mag im Lauf der letzten Jahrzehnte eingebrochen sein, doch die kulturelle Vitalität hat sich schon unser ganzes technologisches Jahrhundert hindurch mit Verstummen, Schläue und Exil abfinden müssen. Kafka sagte zu Max Brod, er solle seine Romane verbrennen, Henry Green und Christina Stead fielen schon zu ihren Lebzeiten dem Vergessen anheim, Faulkner und O’Connor tauchten im ländlichen Süden unter. Die originellsten und weitsichtigsten
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