Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
Wind ein Blatt darauf weht, bekommt er keine Luft mehr. Glauben Sie mir: Wenn ich sterbe, wird er auch sterben. Nur ich kann durch mein Wort ihm das Leben schenken.«
»Geht es darum?«, fragte sie. »Wollen Sie spüren, wie sich das anfühlt, Leben zu schenken? Als Frau kann ich Ihnen das sagen. Ich habe ihn geboren. Er ist neun Monate lang in mir herangewachsen.«
»Na, jetzt wollen wir doch nicht sentimental werden. Ich kann diese ganzen Schwangerschaftsgeschichten nicht gut ab.«
»Weil Sie merken, dass Ihnen als Mann da etwas fehlt?«
Er lachte. »Sie meinen, weil ich keine Kinder bekommen kann? Na ja, so ganz ohne Mann funktioniert das bei den Frauen ja auch noch nicht, oder?«
»Und mein Sohn muss jetzt sterben, weil ihm der Kuchen Ihrer Tochter nicht geschmeckt hat?«
»Ziehen Sie es nicht ins Lächerliche. Er hat sie tief beleidigt und sie schwer verletzt. Viele, viele dieser Verletzungen haben sie am Ende umgebracht. Aber ich sehe, Sie haben das Tagebuch inzwischen gelesen. Es war ja eigentlich für Holger Bloem.«
»Ja, ich habe darin gelesen, und ich bin auf ein sehr, sehr trauriges Mädchen gestoßen.«
»Ja, weil die Welt so böse ist. Ich bin gekommen, um das Böse auszurotten.«
»Nein, ich glaube, das war es nicht, was Ines fertiggemacht hat. Es war etwas ganz anderes.«
»Ach ja? Was denn?«, fragte er angriffslustig.
Inzwischen war der Caffè Crema fertig, und er riskierte es sogar, ihr den Rücken zuzudrehen, um sich noch einen Espresso zu machen.
»Möchten Sie auch einen? Mich baut Koffein immer auf.«
»Ihrer Tochter fehlte das, was ich versucht habe, meinem Sohn mitzugeben: ein gewisses Grundvertrauen ins Leben. Die Hoffnung, dass alles gut werden kann.«
»Albernes Geschwätz!«
»Wenn Sie alle töten wollen, die Ihrer Tochter Schaden zugefügt haben, Herr Küppers, dann müssen Sie sich selbst ja am Ende auf besonders grausame Weise bestrafen. Es reicht doch nicht, dass Sie sich einfach aufhängen. Gemessen an dem, was Sie meinem Sohn zufügen – und daran werden wir es wohl messen müssen –, reicht für Sie das Höllenfeuer kaum aus, oder?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nun, ich habe das Tagebuch Ihrer Tochter gelesen. Sie war einsam. Verdammt einsam. Und sie fühlte sich wertlos.«
Er fuhr Ann Kathrin an: »Ja, weil man sie behandelt hat, als sei sie wertlos.«
»Nein«, gab Ann Kathrin zurück, »weil Sie ihr die Wertschätzung verweigert haben.«
»Ich?«
»Sie sind doch der Vater, wenn ich mich nicht irre. Jetzt gehen Sie auf einen großen Rachefeldzug? Das ist doch lächerlich! Wo waren Sie, als Ines Sie gebraucht hat? Als sie ein kleines Mädchen war? Kleine Mädchen verknallen sich als Erstes in ihren Papa. An ihm probieren sie sich aus. Und wenn der dadurch glänzt, sich nicht für sie zu interessieren, was sollen sie daraus folgern? Dass sie sehr wertvolle Menschen sind? Liebenswert?«
Seine Gesichtszüge entgleisten. Der Espresso tropfte neben die Tasse. »So dürfen Sie nicht mit mir reden!«
»Nein? Soll ich Verständnis für Sie aufbringen? Erwarten Sie das auch von Ihrer Tochter? Verständnis dafür, dass alles andere wichtiger war als sie selbst? Und jetzt, da Sie den Vater in sich entdecken und Zeit haben, da kommen Sie und richten wieder nur Schaden an …«
»Ich richte keinen Schaden an, ich …«
»Das können Sie jetzt nicht wegphilosophieren oder wegargumentieren. Sie bringen Menschen um! Sie benutzen Ihre Tochter, um Ihre sadistischen Phantasien in die Tat umzusetzen …«
Er brüllte sie an: »Ziehen Sie das nicht in den Schmutz! Ich vollstrecke ein Testament!«
»Mir können Sie nichts vormachen. Wer so etwas tut, tickt nicht richtig! Sie können das jetzt nur wunderbar rationalisieren. Auf diese Weise können Sie Ihre Allmachtsgefühle ausleben. Das haben Sie doch schon früher gemacht, stimmt’s?«
Er machte ein angewidertes Gesicht und spuckte vor Ann Kathrin aus.
»Wer hat Ihnen das erzählt? Sie dürfen nicht jeden Mist glauben, den eine Exfrau über ihren Mann verbreitet. Das geschah alles in gegenseitigem Einverständnis. Die Frauen standen drauf …«
»Natürlich«, sagte Ann Kathrin. »Deswegen führen Sie ja auch seit fünfundzwanzig Jahren eine glückliche Ehe und haben sich immer rührend um Ihre Tochter gekümmert.«
»Halten Sie den Mund! Ich komme hier nur meinen Vaterpflichten nach. Es ist mein archaisches Recht!«
Er holte zu einer Geste aus. Ann Kathrin vermutete, dass er sie schlagen wollte. Sie
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