Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
gemerkt, was ich als Kind vermisst habe. Dieses Gefühl, angenommen zu werden und auch noch etwas wert zu sein, wenn man mal Mist gebaut hat. Ich bin da manchmal ganz schön an einen uralten Schmerz gekommen, mitten in den Dienstbesprechungen … Das konnte heftig sein. Ich habe mir immer einen Vater wie Ubbo Heide gewünscht.«
»Ich hatte so einen«, sagte Ann Kathrin.
Weller schlug mit der rechten Faust in die linke und schwor: »Wir kriegen den Drecksack, der ihm das angetan hat! Und dann … dann …«
»Dann stellen wir ihn vor Gericht«, ergänzte Ann Kathrin behutsam.
Weller nahm sein Weinglas in die Hand, stellte es dann aber gleich wieder ab.
Ann Kathrin fand es gut, dass er so offen über seine Gefühle reden konnte. Ihr Ex, der Psychologe, war dazu nie wirklich in der Lage gewesen und hatte ihr dabei immer vorgeworfen, sie sei unfähig, über ihre eigenen Emotionen zu sprechen.
Weller wurde für sie nicht unmännlich, wenn er weinte. Im Gegenteil.
Jetzt stand er auf. Er war ganz in seiner Wut und wusste nicht, wohin damit.
»Ich fahre noch einmal los.«
»Wohin?«
»Das Cage hat noch offen.«
»Willst du jetzt ein paar Biere zischen?«
Er steckte sein Portemonnaie ein. »Nein. Aber überleg doch mal, wie viele Mädchen mit einer weißen Ratte laufen wohl im Moment in Norden herum? Jemand wird sie kennen oder gesehen haben. Ich geh erst ins Cage, und danach suche ich alle Orte auf, wo sich noch Leute befinden. Glaub mir, irgendjemand kennt dieses Mädchen, und wenn wir sie haben, dann kriegen wir auch den Rest.«
»Willst du nicht bis morgen warten? Wir können einen Aufruf veröffentlichen und …«
Er sah sie an, als könne sie diese Aussage unmöglich ernst meinen. Schon war er an der Tür.
Ann Kathrin wirkte unentschlossen. Sie wog ab, was dafürsprach, mit ihm zu gehen. Dann entschied sie sich dagegen.
»Das wird morgen ein harter Tag. Da will ich fit sein.«
»Bei Wolbergs sind bestimmt auch noch Gäste. Die Bar ist keine hundert Meter vom Tatort entfernt. Ich wette, der Messerangriff ist dort das Gesprächsthema.«
Es war ein letzter Versuch, Ann Kathrin zum Mitkommen zu überreden. Aber sie wischte sich nur kurz übers Gesicht und sagte: »Ich hau mich hin. Weck mich nicht, wenn du zurückkommst.«
Keiner von beiden hatte auch nur einen Schluck Wein getrunken.
Als dann die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, legte sie sich zwar gleich hin, konnte aber, anders als erwartet, nicht einschlafen. Sie musste an ihren Vater denken. Bilder schossen durch ihren Kopf wie urzeitliche Vulkanausbrüche:
Die Ausstellung. Die Holzschnitte von Horst-Dieter Gölzenleuchter. Wie ihr Vater ihr die Formen erklärte. Der Künstler selbst, ein Freund ihres Vaters oder wenigstens ein Bekannter, der ihre Finger nahm und sie die Konturen des Holzes spüren ließ.
Wie aufgehoben und wie geborgen sie sich mit diesen Männern gefühlt hatte. Wie ernst genommen!
Sie stand auf und lief in den Flur, wo neben der Tür das Original hing.
Der Rattenfänger
. Ihr Vater hatte es ihr zur Erinnerung geschenkt. Ihr erstes eigenes Kunstwerk.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel es heute wert war. Sie hätte es nicht gegen einen Mittelklassewagen eingetauscht.
Sie hob es sorgfältig von der Wand und nahm es mit ins Schlafzimmer. Sie stellte es auf den Nachttischschrank, so dass sie es ansehen konnte.
Sie fühlte sich wie ein kleines Kind. Wie damals.
Bitte, lieber Gott, dachte sie, bitte lass Ubbo nicht sterben.
Der Mordversuch an Ubbo Heide veränderte alles. Die Leiche im Feuer rückte für kurze Zeit in den Hintergrund. Berichte über Verhöre, die eigentlich vor zehn Uhr auf Ubbo Heides Schreibtisch gelandet wären, wurden nicht mal mehr getippt. Rupert vergaß sogar den Namen Willbrandt und fragte Sylvia Hoppe, ob sie sich nicht um »diesen Dingenskirchen« kümmern könnte. So kam sie, obwohl es eigentlich anders geplant war, nun doch in den Genuss, ihren Exfreund befragen zu dürfen.
Plötzlich interessierte sich niemand mehr für ihre persönliche Verstrickung. Die Affäre mit Fokko Gerdes hatte ein knappes Jahr gedauert. Sie war am Anfang sehr glücklich gewesen und hatte gut fünf Kilo zugenommen. Fokko war ein Hobbykoch und las Kochbücher wie andere Leute Kriminalromane. Das Problem war, er konnte trotz all seiner Versuche nicht kochen. Aus ihrer Sicht versalzte er alles, und sein Lieblingsgewürz war Chili. Ihm zuliebe aß sie sein Essen und verbrannte sich jedes Mal fast den Mund
Weitere Kostenlose Bücher