Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
schrie: »Äi, bist du verrückt?! Tierquäler!«
Es war eine Rangelei zwischen Jugendlichen. Die Punkerinnen kreischten und wurden herumgeschubst.
Obwohl die mit den Stoppelhaaren um Hilfe rief, hätte auch alles harmlos sein können. Eine Kabbelei zwischen jungen Leuten, mehr nicht. Vielleicht war es das sogar, bis Ubbo Heide einschritt und die Mädchen fragte: »Werden Sie belästigt? Benötigen Sie Hilfe?«
»Nein, hier ist alles in Ordnung. Verzieh dich lieber, Opa«, sagte die mit dem vielen Blech im Gesicht und meinte es vermutlich netter, als es klang. Aber der junge Mann – voll mit Testosteron und Amphetaminen – hatte einen aggressiven Blick. Er erkannte Ubbo Heide und stieß ihn gegen die Brust.
»Wir kennen uns doch, du Hilfssheriff. Willst du hier eine dicke Lippe riskieren?«
Die Punkerin, die Love genannt wurde, versuchte wahrscheinlich, Ubbo zu retten und die Situation zu deeskalieren, als sie sagte: »Wir haben nur so aus Spaß um Hilfe gerufen. Ist alles ganz easy hier.«
»Dann ist das, was ihr veranstaltet, ruhestörender Lärm. Dann muss ich euch bitten, ein bisschen runterzufahren …«
Weiter kam Ubbo Heide nicht. Er nahm die Klinge wie das silberne Blitzen eines Heringsschwarms unter Wasser wahr. Der Stoß kam von unten und ein Brennen und Reißen unterhalb der Rippen nahm Ubbo die Luft.
Für einen Moment sah er sich und die ganze Situation von außen, als sei er aus seiner körperlichen Hülle gefahren und würde jetzt über den Köpfen schweben.
Der zornige junge Mann stieß noch einmal zu.
Die rothaarige Punkerin riss die traurigen Augen schreckensweit auf und hauchte ein: »Spinnst du? Pik!«
Ubbo Heide drehte sich um die eigene Achse und sackte zusammen. Er kniete jetzt mitten auf dem Neuen Weg, zwischen Sparkasse und Piratenschule.
Die Klinge fuhr in seinen Rücken.
Er hörte den Schrei seiner Frau. Da war ein Dröhnen in seinen Ohren. Jemand trat ihn, und er fiel auf die rechte Seite. Etwas Klebriges, Warmes breitete sich auf seinem Bauch aus, und er wusste, dass es sein eigenes Blut war.
Ohne Rücksicht auf sich selbst rannte Carola zu ihrem Mann. In diesem Moment war sie bereit zu sterben.
Vielleicht spürten das die Jugendlichen und flohen vor ihrer Entschlossenheit. Vielleicht erschraken sie auch nur vor dem, was sie angerichtet hatten. Jedenfalls stürmten sie alle weg in Richtung Norder Tor.
Carola Heide kam bei ihrem Mann an. Er lag in seinem Blut, und aus seiner Hosentasche rollte eine goldene Kugel, auf der sich die Neonlichter der Altstadt geradezu ironisch spiegelten.
Ubbo sah seine Frau aus großen Augen an und öffnete den Mund. Er wollte etwas sagen, bekam aber keinen Ton heraus.
Vier Kerzen brannten. Es lief keine Musik, sondern es war völlig still im Distelkamp. Sie liebten beide diese Ruhe, wenn jedes Knarren in den Dachbalken hörbar wurde und bei geöffnetem Fenster der Flügelschlag einer Möwe nicht unbemerkt blieb.
Manchmal glaubte Ann Kathrin in solchen Momenten, den fleißigen Maulwurf im Garten graben zu hören.
Weller hatte ihr die Füße massiert. Jetzt war sie dran. Er machte es sich schon auf dem Sofa bequem, und sie wärmte Öl an, weil das Teelicht unter der Schale erloschen und das Öl inzwischen erkaltet war.
Sie schwiegen und konzentrierten sich ganz darauf, den anderen zu spüren. Dies waren sehr intime Momente ihrer Zweisamkeit. Trotzdem schreckten beide hoch, als das Handy in Ann Kathrins Mantel an der Garderobe sein Seehundheulen ertönen ließ.
Wie oft hatten sie in solchen Situationen jedes Klingeln gelassen überhört, egal, ob an der Tür oder vom Telefon. Jetzt war es anders. Sie blickten sich an, und es war gleich klar, dass sie drangehen sollte.
Sie war sofort auf dem Sprung. Es war wie damals, als sie im Aggi Huus saß und am Handy vom Schlaganfall ihrer Mutter erfuhr. Sie wusste gleich, dass dieser Anruf wichtig, ja bedeutend, vielleicht sogar lebensentscheidend war.
Weller ging es ähnlich. Er zog sich schon Socken an, während sie zu ihrem Handy in den Flur lief. Das Seehundgeheul klang jämmerlich.
Sie meldete sich kurz und lauschte. Dann rief sie Weller, der bereits alle Kerzen im Wohnzimmer ausgeblasen hatte. »Ubbo ist in der Notaufnahme!«
Schon hatte Weller seine Jacke an. »Herzinfarkt?«
»Nein, Messerattacke.«
»Verdammt!«
In der Ubbo-Emmius-Klinik vor der Intensivstation saß Ubbos Frau Carola kreidebleich und sagte immer wieder: »Ich erreiche unsere Tochter nicht. Insa ist doch sein
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