Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
dass sie vor diesem Riesen-Panoramafenster saß? Konnte sie hier niemand sehen, während sie erleben musste, dass die Welt draußen einfach weiterlief, als sei nichts geschehen?
Was, fragte Michaela Warfsmann sich, will dieser Typ von mir? Und wo ist er überhaupt?
Weller hielt sich an Ann Kathrins Anweisung und besuchte Ubbo Heide, ohne bei Pille vorbeizugehen. Dieser Pille wurde ohnehin noch operiert und hätte kaum Fragen beantworten können.
Ubbo dagegen knabberte schon wieder an einem Marzipanseehund.
Er nahm die Genesungswünsche aller Kollegen sehr gern entgegen, ließ sich über die Untersuchungen auf dem Laufenden halten und war so interessiert wie immer, als hätte er sein Büro nur hierher ins Krankenhaus verlegt. Ruhig hörte er zu und stellte seine Fragen. Aber dann, nachdem Weller ausführlich berichtet hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er griff nach dem Dreiecksgriff über sich, um sich ein wenig hochzuziehen.
Weller wollte ihm sofort helfen, aber Ubbo gefiel das nicht. Er wollte so viel wie möglich selbst tun.
»Meine Muskeln schlafen sonst ein«, sagte er. »Ich muss hier ein paar Übungen machen. Nicht nur für die Arme, sondern besonders auch für die Beine. Machen wir uns nichts vor, Frank. Ich werde nicht mehr zurückkommen.«
Frank Weller protestierte und lachte dabei gekünstelt, so als sei dies völlig undenkbar.
Aber Ubbo beharrte darauf. »Ich wusste es in dem Moment, als ich von der Klinge getroffen wurde. Das war meine Fahrkarte in die Frühpensionierung. Wir müssen meine Nachfolge regeln. Haben sie euch schon jemanden vor die Nase gesetzt? Wenn wir jetzt die richtigen Strippen ziehen, könnte Ann Kathrin …«
»Nein«, protestierte Weller, »du bist unser Chef! Sie hat nicht das geringste Interesse daran, deinen Posten einzunehmen. Was redest du überhaupt für einen Mist? Wir sind so was wie deine Familie! Wir brauchen dich, und du brauchst uns.«
»Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich darin, wie er mit den Schlägen umgeht, die das Leben ihm verpasst. Gibt er auf? Entscheidet er sich, ein jammernder Trauerkloß zu werden? Oder nimmst du an, was ist, statt dich sinnlos dagegen aufzulehnen? Ich habe mich dem Fluss des Lebens immer anvertraut, aber nicht wie ein Baum im Fluss, sondern ich habe versucht, das Beste aus allem zu machen. Und das werde ich auch jetzt tun.«
Er hustete und hatte Mühe weiterzusprechen.
»Zunächst heißt das, dafür zu sorgen, dass euch nicht irgendeine Pfeife vor die Nase gesetzt wird. Zu viele Abteilungen in Betrieben, Firmen und Behörden sind nach dem Guppy-Prinzip organisiert.«
»Was? Ich verstehe nicht. Was soll das sein, das Guppy-Prinzip?«
»Na, diese bunten Zierfische mit den herrlich langen Schwänzen.«
Weller kapierte immer noch nicht, und Ubbo erklärte: »Ein Guppy-Männchen umgibt sich gern mit unattraktiven, weniger schillernden Artgenossen. Die anderen beißt er weg. So erhöht es seine Chancen bei den Damen. Dieses Prinzip gibt es überall. Deshalb haben es wirklich gute Leute so schwer hochzukommen. Wittert ein Chef einen begabten Mitarbeiter, freut er sich nicht etwa und fördert ihn, sondern stellt ihn kalt. Stattdessen fördert er die Luschen, in deren Umgebung er besser glänzen kann. Ich nenne es das Guppy-Prinzip. Dieser Mist ist dafür verantwortlich, dass wir vom Mittelmaß regiert werden. Fast überall. Das wollte ich bei uns vermeiden. Ich habe immer die Besten gefördert, die mit dem größten Talent.«
»Du meinst, es könnte sonst passieren, dass Rupert bei uns Chef wird?«
Ubbo Heide griff sich an die Brust. »Mach keine Witze, ich darf noch nicht lachen. Das tut zu weh. Da könnten die Wunden wieder aufplatzen.«
Wo bist du, du Sau? Komm endlich! Zeig dich! Rede mit mir!
Sie konnte es nicht schreien, es aber zumindest denken. Immer wieder und wieder.
Inzwischen wurde es draußen dunkel, und mit der Finsternis vergrößerten sich das Grauen und die Wut auf ihren Mann Joachim.
Wo war er? Warum sah sie ihn nicht draußen herumlaufen und ihren Namen rufen? Warum mobilisierte er nicht die Polizei? Warum wurden nicht längst Hotels und Ferienwohnungen durchsucht? Warum klingelte hier niemand?
Wurde sie nicht vermisst? Nicht gesucht? Machte ihr Joachim mit dem Täter gemeinsame Sache? Wollte er sie abmurksen lassen, um seine spargeldünne Kollegin mit den dunklen Augen und dem feurigen Blick zu heiraten? Hatte er Angst vor einem endlosen Scheidungskrieg, in dem er alles verlieren
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