Anna, die Schule und der liebe Gott
drei Jahrzehnten zusätzlich an Schulstoff dazugekommen ist – man denke zum Beispiel allein an den Wissenszuwachs in der Genetik oder der Informatik –, um einzusehen, dass man den etablierten Stoff in unseren Lehrplänen an anderer Stelle kürzen muss, damit der Kessel nicht überkocht. Dabei geht es nicht nur um die Frage, den einen oder anderen langweilig gewordenen Klassiker der Literaturgeschichte im Deutschunterricht gegen einen spannenden Gegenwartsautor einzutauschen. Es gibt in unseren Lehrplänen zudem in Hülle und Fülle völlig überflüssigen Unterricht, der zu gar keiner weiterführenden Erkenntnis verleitet, sondern einzig zum Verdruss.
Bei einem Tag der offenen Tür an einem Kölner Gymnasium erklärte ein junger freundlicher Deutschlehrer den Fünftklässlern lehrplangemäß, dass sich bei zusammengesetzten Substantiven der Artikel stets nach dem letzten Substantiv richtet, weswegen es die Kohlmeise heißt und nicht der Kohlmeise. Der Unterricht war eine kleine Meisterleistung in Didaktik. Phase für Phase wurden die Kinder dazu gebracht, zusammengesetzte Substantive zu sezieren. Und als Ergebnis ihrer Anstrengung hatten sie am Ende die besagte Regel gelernt. Dass die Unterrichtsstunde, so korrekt sie ausgeführt war, völlig verschwendete Zeit war, steht auf einem anderen Blatt als dem Lehrplan. Kein einziges deutsches Kind auf dem Gymnasium im Alter von zehn oder elf Jahren sagt der Kohlmeise oder die Blumentopf. Das Kennen der Regel hinter einer Sache, mit der man ohnehin kein Problem hat, ist nicht nur überflüssig, sondern völlig langweilig. Nahezu die Hälfte des von vielen Kindern zu Recht als öde betrachteten Grammatikunterrichts könnte auf diese Weise gekürzt werden. Der Rest lässt sich durch praktische und phantasievolle Aufgaben, bei denen die Kinder selbst Texte schreiben, en passant erklären. Denn nicht einmal ein Schriftsteller muss genau wissen, was ein Konsekutivsatz ist, sodass er ihn bewusst als solchen einsetzt. Er reicht aus, dass er ihn schreibt.
Doch statt die Lehrpläne von solchen sinnlosen Lerninhalten zu befreien, lassen wir sie unangetastet und fügen noch immer mehr hinzu. Die Folge ist leicht beschrieben. Erstens wissen die meisten Erwachsenen schon wenige Jahre nach dem Abitur nicht mehr, was ein Konsekutivsatz ist – das Problem hat sich ihnen nie wieder gestellt. Und zweitens wächst von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der innere Widerstand der Schüler gegen die veralteten Lernvorstellungen in den Lehrplänen. Kinder und Jugendliche haben nämlich in vielen (wenn auch nicht in allen) Dingen einen erstaunlich guten Instinkt dafür, was sie im Leben brauchen und was nicht. Im Zweifel sogar einen besseren als ihre Lehrer. Denn ein Erwachsener, der nahezu die Hälfte seines Lebens in der Schule verbringt, neigt leicht dazu, die Schule für das Leben zu halten – es ist ja auch tatsächlich sein Leben. Gleichwohl ist es nicht das Leben der anderen und zumeist nicht das zukünftige Leben der Schüler, es sei denn, sie werden selbst Lehrer. Was in der Schule relevant ist, muss nicht im Leben relevant sein. Vielmehr ist Schule ein sich selbst verstärkendes System, das sich in Bezug auf die wichtigsten Lehrinhalte seit Generationen selbst bestätigt.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die bekannten Klagen vieler Lehrer, dass die » Schüler von heute « nicht mehr ausreichend motiviert, pausenlos abgelenkt, uninteressiert am Stoff und für nichts mehr zu begeistern seien, in einem anderen Licht. So richtig es ist, dass Unterrichten im Zeitalter einer permanenten Eventkultur für Kinder und Jugendliche nicht leichter geworden ist, so wenig lässt sich die veränderte Zeit den Kindern anlasten, die doch nur ihre Produkte sind. Und es befreit die Pädagogen und Didaktiker auch nicht aus der Pflicht, mithilfe externer Experten immer wieder neu darüber nachzudenken, was denn für unsere heutige Zeit nun Schulstoff sein sollte und was nicht mehr. Solange große Teile unserer Lehrpläne kind- und jugendlichenfern gestaltet sind, darf man sich über deren Desinteresse jedenfalls nicht wundern.
Wichtig wäre es, die Schulen bei alledem nicht zu überfordern. Sie sind gewiss nicht die einzigen Bildungsträger für das spätere Leben. Man muss nicht alles in der Schule lernen, weil man gewisse Sachen ohnehin besser in der Freizeit lernt. Allerdings nur, sofern man Freizeit hat! Wie aus der Klage von Yakamoz Karakurt zu hören, frisst die Schule, insbesondere die G8-Schule, diese
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