Anna, die Schule und der liebe Gott
Freizeit weitgehend auf und damit eine ganze Welt alternativen Lernens. Wichtige Dinge wie Freunde zu finden, seine Umwelt näher zu entdecken, Feste zu organisieren, gemeinsam zu kochen, mit Geld umgehen zu lernen, sein Konsumverhalten zu trainieren oder eine Sportart intensiv zu betreiben bleiben dabei auf der Strecke. Und dies alles, um seine Zeit einem System zu opfern, das hochgradig ineffektiv und redundant ist und das sich trotz (oder gerade wegen?) aller Kritik weigert einzusehen, dass es ein Wissens- und Bildungsideal verficht, dem es nicht einmal im Ansatz Genüge leistet, wenn von alledem Gelernten und Auswendiggelernten am Ende ohnehin nur ein paar Krümel übrig bleiben.
Sieben und Sortieren
Wer das Niveau unserer Schulen heben will, muss die Stoffmenge reduzieren. Denn wer einiges gründlich verstanden hat, weiß mehr als der, der vieles gedanklich nur gestreift und wieder vergessen hat. In diesem Sinne forderte schon der große Philosoph und Pädagoge Johann Amos Comenius vor über vierhundert Jahren: » Lehrer, lehrt weniger, damit eure Schüler mehr lernen können. « 56 Diesen Zusammenhang zwischen Stofffülle und Niveau gilt es zu begreifen, wenn mal wieder die Schlachten zwischen jenen besserverdienenden Bildungsbürgern geschlagen werden, denen unsere Schulen nicht anspruchsvoll genug sind, und jenen linksorientierten Sozialutopisten, denen das Wort » Elite « unweigerlich einen Schauder über den Rücken laufen lässt. Wie auch immer man unsere Schulen besser machen will, mit der gegenwärtigen Stoffmasse, im Durchlauferhitzer heiß gemacht und dann weggeschüttet, wird es jedenfalls nicht möglich sein.
Da der eigentliche Sinn, warum unsere Kinder und Jugendlichen solche Stoffmengen bearbeiten müssen, nichts mit Bildung zu tun haben kann, die man so ja nicht erreicht, muss es einen anderen Sinn dafür geben. Und dieser andere Sinn ist schnell gefunden. Der wahre Grund, warum unsere Gymnasien eine solche Stofffülle auffalten und unsere Kinder und Jugendlichen bis in den frühen Abend vom Leben fernhalten, ist: Je mehr Stoff zu bewältigen ist, umso stärker trennt sich die Spreu vom Weizen. Denn da die Funktion nicht in Bildung bestehen kann, die Muße und Intensität braucht statt Eile und Fülle, scheint sie darin zu liegen, unsere Kinder zu selektieren: Wer darf einmal Jura studieren, und wer sitzt bei Aldi hinter der Kasse?
Schulabschlüsse dienen dazu, Gräben zu ziehen, in vielen Fällen sogar endgültige Gräben. Und nicht wenige Eltern, zumindest diejenigen, deren Kinder gute Chancen auf dem Gymnasium haben, finden das auch völlig in Ordnung so. Ihnen scheint es bereits als Vorzeichen eines drohenden Untergangs, dass die Quote an Abiturienten in Deutschland auf über 40 Prozent gestiegen ist. Wo kämen wir denn hin, wenn bald jeder in Deutschland Abitur macht? Die eigenen Kinder könnten auf diese Weise schnell ihre privilegierte Stellung im Kampf um die besten Jobs verlieren. Und warum sollte man das wollen oder gar unterstützen? Soll der Nachwuchs sinnlose Materialschlachten in der Schule schlagen – Hauptsache, es dient der sozialen Distinktion.
Der Denkfehler hinter solchen Ängsten und Überlegungen ist nicht schwer zu finden. Denn die Konkurrenz, die allerorten befürchtet wird, gibt es gar nicht. Im Vergleich zur Generation ihrer Eltern sind die Kinder, die heute in die Schule gehen, die privilegiertesten, die es in Deutschland je gab. Angesichts des eklatanten Kindermangels in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Lage gegenüber den vorhergehenden Jahrzehnten völlig entspannt. Und Exklusion ist genau das Gegenteil von dem, was unsere Gesellschaft benötigt. Als eine Nation, deren Wohlstand nicht auf Rohstoffen, sondern auf Know-how basiert, brauchen wir in Zukunft jedes Gehirn, das wir haben. Gemessen an diesen Herausforderungen können wir uns das Filtersystem, so wie wir es in Deutschland vorfinden, definitiv nicht mehr leisten: Wir sieben viel zu viele aus, die wir in unserer Wirtschaft später in guten Berufen nicht entbehren können. Und wir züchten zugleich ein gewaltiges Potenzial an unzufriedenen und ausgeschlossenen Menschen heran, denen wir eine echte Chance auf ein erfülltes Leben verweigern.
In solcher Lage mutet es geradezu grotesk an, wenn Gymnasialdirektoren sich auch noch etwas darauf einbilden, dass bei ihnen viele Schüler die Schule vorzeitig wieder verlassen müssen. Nichts Bizarreres, als darin einen Qualitätsnachweis zu sehen – es
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