Anna, die Schule und der liebe Gott
Und auch dreißig Monate nach Schulende stecken noch immer 40 Prozent der Hauptschüler nicht in einer Berufsausbildung. Und jeder vierte Jugendliche eines Jahrgangs gilt als generell nicht ausbildungsfähig. Dazu kommen sieben bis acht Prozent eines jeden Jahrgangs, die die Schule völlig ohne Abschluss verlassen, weil man ihnen auch beim allerbesten Willen keinen Hauptschulabschluss schenken kann – der sicherste Weg in eine Hartz- IV -Karriere. Dabei werden sie in jeder Hinsicht in der Gesellschaft wie in der Wirtschaft dringend gebraucht. » Man kann « , schreibt Heinz Bude, » in einer solchen Situation 8 oder 10 Prozent eines Jahrgangs nicht einfach als Restgröße abschreiben. Die Hauptschule kann nicht länger als Parkbank für die Unterklasse hingenommen werden. Das gesamte Bildungssystem muss vielmehr so renoviert werden, dass dieses brachliegende Arbeitskraftpotenzial wirtschaftlich genutzt und gesellschaftlich anerkannt werden kann. « 139
Und doch ist es das Streben danach, seine Privilegien zu sichern, das den Umbau unseres Schulsystems am stärksten blockiert – frei nach der genannten sozialpsychologischen Weisheit, dass eine Situation, die Menschen für real halten, in ihren Folgen real ist. In einer Gesellschaft, in der die Normen des Marktes die Sozialnormen in jedem Bereich verdrängen, darf man sich über die mangelnde Solidarität wahrscheinlich nicht wundern – erst recht nicht, wenn es ums eigene Kind geht. Vielmehr als eine reale Situation ist es also eine Mentalität, die die wirtschaftlich und gesellschaftlich dringend erforderlichen Veränderungen verhindert; man kann auch sagen: Eitelkeit, Statusdenken, Kurzsichtigkeit und Egoismus.
Bildungsrepublik?
» Keine der Maßnahmen, die erforderlich sind, ist möglich, wenn nicht zuvor der nationale Notstand auf dem Felde des Bildungswesens erklärt wird. Da es sich wirklich um einen nationalen Notstand, nicht nur um regionale Engpässe handelt, kann eine solche Erklärung nicht von den elf Ländern einzeln abgegeben werden. Es ist die Aufgabe des Bundeskanzlers, wenn möglich im Einverständnis mit den Ministerpräsidenten, dem deutschen Volk in dieser Lage die Wahrheit zu sagen. « 140 Dass diese Sätze aus dem Jahr 1964 stammen, erkennt man allein an zwei Details: an der Anzahl der Bundesländer und dem Bundeskanzler, der damals Erhard hieß und noch keine Kanzlerin war. Ansonsten aber ist Pichts Aufforderung, dem deutschen Volk die Wahrheit über den nationalen Notstand zu sagen, so aktuell wie nie zuvor.
Selbstverständlich kennt die Bundesregierung heute die Lage, auch wenn man das Wort » nationaler Notstand « in der Medien- und Aufregungsdemokratie besser vermeidet. Bereits im Juni 2008 erklärte Angela Merkel, das Bildungssystem » müsse jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg ermöglichen « , denn » Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle « . Nur bei ausreichender Bildung sei die Chancengleichheit für Kinder unterschiedlicher sozialer oder geografischer Herkunft gewährleistet und damit ihre Aufstiegsmöglichkeit. Der Ausbau des Bildungssektors sei deshalb die zentrale politische Aufgabe für die nächsten Jahre: » Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden. «
Der wichtigste Unterschied in der deutschen Politik zwischen 1964 und 2008 ist leicht benannt. Wer in den sechziger Jahren große Worte machte und eine Lösung des Bildungsproblems versprach, der meinte das auch so. Wer heute große Worte macht und eine » Bildungsrepublik « verspricht, der hat morgen andere Sorgen. Ankündigungen, Schlagzeilen und wohlklingende Formulierungen haben das Handeln weiträumig ersetzt. Verglichen mit der erhöhten Wirtschaftskraft, gemessen am BIP , nehmen sich die Bildungsausgaben nach wie vor ziemlich bescheiden aus. Sie sind gerade einmal von 4,8 auf 5,3 Prozent gestiegen (der OECD -Durchschnitt liegt bei 6,2 Prozent). Wir geben heute im Verhältnis nur wenig mehr Geld für Bildung aus als 2008. Wie das vollmundig angekündigte Ziel, die Bildungsausgaben bis zum Jahr 2015 auf zehn Prozent des BIP zu bringen, bei diesem Tempo erreicht werden soll, ist völlig schleierhaft.
Mit einer Revolution des Sektors hat all dies wenig zu tun. Hinzu kommt, dass es zu einer » Bildungsrepublik « mehr braucht als nur Geld. Bezeichnenderweise hatte Merkel auf dem » Bildungsgipfel « (was für ein Wort!) in Dresden auch nicht von einem » Umbau « des Bildungssystems gesprochen, sondern nur von einem » Ausbau
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