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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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–1921), erträumte sich dazu einen herrschaftsfreien Kommunismus mit menschlichem Antlitz. La conquête du pain (Die Eroberung des Brotes) hieß das Werk im Original, das sein Schweizer Verlag mit dem Titel Der Wohlstand für Alle 1896 auf den Markt brachte. Der Zweite, Ernst Kliemke (1870 –1929), konstruierte 1923 unter dem Pseudonym » Heinrich Nienkamp « eine eher sozialdemokratische Utopie: Wohlstand für alle! Verschmelzung von Kapitalismus und Sozialismus. 1957 fiel der Titel dann in die Hände des parteilosen Christdemokraten und deutschen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, der darin den Deutschen die Soziale Marktwirtschaft erklärte: » Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. « Dagegen setzte Erhard sein Konzept, immer mehr Menschen an den Segnungen der Märkte teilhaben zu lassen und damit die alten Klassenschranken zu überwinden. Das Erste gelang hervorragend. Das Zweite etwas weniger und brachte dadurch später die Sozialdemokratie an die Macht.
    » Wohlstand für Alle! « Ein Sinnspruch oder Slogan ist, wie Kliemke meinte, » die Pforte zu einem Gedankenpalast; die meisten betrachten nur die Pforte, treten aber nicht ein « . Obwohl der Zusammenhang zwischen Bildung und Wohlstand evident zu sein scheint, bestimmt er in Deutschland keineswegs die Leitgedanken der Politik. Ernst Fehr hat einmal berechnet, was es für die Schweiz bedeuten könnte, wenn man analog zum US -amerikanischen Perry-Preschool-Programm eine flächendeckende Frühförderung betriebe. Bei dem Perry-Preschool-Projekt bekam die Allgemeinheit für jeden Dollar, den sie in das Projekt investierte, neun Dollar zurück – an eingesparten Sozialkosten! Die » Kinder, die an dem Programm teilnahmen, wurden später seltener arbeitslos, seltener kriminell, sie lebten gesünder und verursachten weniger Gesundheitskosten als ihre Altersgenossen « . 137 Auf ein Land wie die Schweiz übertragen, bedeutete dies: » Gelänge es, jene 13 Prozent der Schweizer Schüler, die im PISA-Test unter 400 Punkten liegen, über diese ›Ungenügend‹-Grenze anzuheben, dann brächte dies in den nächsten 80 Jahren einen Wohlfahrtsgewinn von 1000 Milliarden Franken. « Für Fehr ergibt sich dadurch der Schluss, » dass Investitionen in die Förderung unserer Kleinsten sogar rentabler sind als Investitionen am Kapitalmarkt « .
    Dabei ist die Anzahl an Schülerinnen und Schülern, die in Deutschland die Schule mit Basiskompetenzen nur auf Grundschulniveau verlassen, im internationalen Vergleich besonders dramatisch. Doch statt unsere Sozialkassen durch eine entsprechende Frühförderung zu entlasten, nehmen wir noch immer Folgekosten in Milliardenhöhe in Kauf. Und der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist trotz Steigerungen nach wie vor erschreckend gering.
    Noch alarmierender erscheint dieser Zustand, wenn man sich die demografische Entwicklung anschaut. Denn alle Anzeichen sprechen dafür, dass Deutschland ein Fachkräftemangel droht, der noch viel größer ist als in den sechziger Jahren. Pichts » Begabungsreserve « – noch nie war es wichtiger sie auszuschöpfen als heute. Nach dem Bildungsbericht 2010 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung fallen die unter Dreißigjährigen von derzeit 25,5 Millionen bis 2025 auf 21,3 Millionen – das heißt, ein Rückgang in den Schulen und Hochschulen von 20 Prozent. In der gleichen Zeit verabschiedet sich die Generation der Babyboomer, die Anfang der Sechziger Geborenen, aus dem Berufsleben, und die geburtenschwachen Jahrgänge rücken auf. Ohne sich an detaillierte Prognosen zu wagen, ist abzusehen, dass der Mangel an Fachkräften sehr viele Berufsstände treffen wird, vermutlich Ärzte, Lehrer und Ingenieure ebenso wie Handwerker. Bereits jetzt schlägt der Zentralverband des Deutschen Handwerks ( ZDH ) Alarm, weil es viel zu wenig qualifizierten Nachwuchs gibt. 138
    Dabei geht es hier nicht allein um die Zahl der Absolventen, sondern auch darum, dass es zu vielen Hauptschülern sowohl an Motivation fehlt wie auch an Kenntnissen. Nur rund 40 Prozent aller Hauptschüler finden in den ersten sechs Monaten nach Schulende eine Ausbildungsstelle.

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