Anna, die Schule und der liebe Gott
Grandseigneur der deutschen Reformpädagogik, die Idee wieder auf und unterbreitete den Vorschlag eines Pilotprojekts. Danach sollten über eine Laufzeit von zehn Jahren in einer » mittleren kreisfreien Großstadt « Schüler der Klassen sieben bis neun » entschult « werden, um sich in außerschulischen Großprojekten zu verwirklichen. Hentig erträumte sich dabei eine Situation, bei der » an die Stelle von verordnetem Pensum eine möglichst frei zu wählende Lerngelegenheit, an die Stelle von kollektiver Belehrung eine persönliche Bewährung in einem Lebenszusammenhang, an die Stelle von Leistungszwang eine Selbstverpflichtung, an die Stelle des abstrakten Gehorsams ein konkreter Vertrag mit der Gemeinschaft « tritt. 133
Hentigs Motiv ist weniger der Unwille des pubertierenden Gehirns gegen Stoff, Fächer und Autoritäten, als vielmehr die Angst vor dem Zerfall der Gemeinschaft in Deutschland. Für ihn hat sich die Gesellschaft im fortgeschrittenen bundesdeutschen wie globalen Kapitalismus entsolidarisiert. Je individueller die Menschen wurden und werden, umso weniger begreifen sie sich als Teil einer Gemeinschaft. » Die vollzogene individuelle Emanzipation verdrängt das Bewusstsein von der fortbestehenden Abhängigkeit aller von den Ordnungen und Leistungen des Gemeinwesens. Dieses ist abstrakt geworden; man muss es ›denken‹, man ›erfährt‹ es nicht mehr – außer in seinen negativen Folgen. Die positiven schreibt man seiner eigenen Tüchtigkeit oder derjenigen seiner Gesinnungsgenossen zu. « 134
Ganz gleich, ob man die » Entschulung « von Pubertierenden entwicklungspsychologisch oder moralisch-politisch begründet – die Pointe ist offensichtlich die gleiche: Man muss sich etwas einfallen lassen, um Jugendliche in der Pubertät ihrem Entwicklungsstand und Reifegrad angemessen zu bilden beziehungsweise ihre Selbstbildung zu begünstigen. Aber wie könnte so etwas aussehen?
Hentig schlägt vor, dass die Schüler wie bei einem Landschulaufenthalt gemeinsam die Schule und das Elternhaus verlassen sollen, um » eine große, vielfältige, sich selbst fortzeugende Aufgabe « zu erfüllen. Ideen für ein solches Selbsterfahrungsprojekt gibt es viele. Eine der schönsten Möglichkeiten ist sicherlich die Erfahrung, mit einer Gemeinschaft von Gleichaltrigen auf große Fahrt mit einem Segelschiff zu gehen, bis in die Karibik oder zu den Galápagos-Inseln. Jugendschiffe wie die Thor Heyerdahl, die Nostra, die Johannes Georgi, die Undine und Fridtjof Nansen stehen dafür bereit. Eine solche » Gefahren- und Glücksgemeinschaft « (Hentig) schweißt nicht nur zusammen, sondern eignet sich auch hervorragend, um dabei Physik zu lernen, Meteorologie, Geografie, Seekarten zu lesen oder sich mit der Tierwelt der Meere auseinanderzusetzen.
Doch auch augenscheinlich weniger spektakuläre Projekte haben ihren Reiz: einen Film drehen, ein Theaterstück einstudieren, einen Stadtteil erkunden, eine Stadt mit all ihren Funktionen, Ämtern, Behörden usw. simulieren, Fahrzeuge zusammenbauen, ein Stück Wald bewirtschaften und vieles andere mehr. Entscheidend ist die gute Mischung aus Herausforderung, Abenteuer, Gemeinschaft und Unterricht. Denkbar wäre es auch, ein solches Projekt zusammen mit einer befreundeten Schule im Ausland zu machen, um eine Zeit in England, Spanien oder Frankreich zu leben und dort mit ausländischen Schülern seine Fremdsprachenkenntnisse lebendig werden zu lassen und zu verbessern.
Aus meiner Sicht wäre ein solches Abenteuerprojektjahr im achten Schuljahr sinnvoll. Drei Jahre, wie Hentig vorschlägt, sind eindeutig zu viel. Zudem geht Hentig erstaunlicherweise davon aus, dass der » normale « Schulunterricht weiter schematisch in Fächer parzelliert ist und die Pubertätsjahre einen grundsätzlich anderen Unterricht erfordern. In meinem Modell wäre das Abenteuerjahr nur insofern verschieden, als dass man sich größere Projekte außerhalb der Schule sucht – nicht aber in der Tatsache, dass der meiste Unterricht in Form von Projekten stattfindet. Die Jugendlichen wählen dann in ihrem achten Schuljahr aus einem Angebot zwei oder drei Projekte aus, nicht anders als sie schon ihre kleineren Projekte wählen. Das Abenteuerjahr ist dann ein ganz großes Schwungholen für die Motivation in der neunten und zehnten Klasse. An deren Ende steht der allgemeine Abschluss für jeden, bevor sich die Wege trennen.
Dass solche Vorstellungen nicht nur schönes Wunschdenken bleiben müssen, bewies
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