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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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sollen. Ich hätte dir erklären müssen, dass es nicht deine Pflicht oder dein Geburtsrecht oder so etwas ist, nachdem dein Vater gestorben ist. Andere Leute können das übernehmen.«
    »Nicht viele andere Leute«, widerspreche ich. Allmählich werde ich wütend. Ich weiß, dass es nicht ihre Absicht ist, aber es kommt mir vor, als hätte sie meinen Dad entehrt. »Und nicht dieses Mal.«
    »Du musst das nicht tun.«
    »Ich habe mich dazu entschieden.« Mittlerweile habe ich den Kampf gegen meine Stimme verloren und werde laut. »Wenn wir weggehen, folgt es uns. Wenn ich es nicht töte, frisst es Menschen. Verstehst du das nicht?« Endlich sage ich ihr, was ich die ganze Zeit für mich behalten habe. »Ich warte schon so lange darauf, und dafür habe ich all die Jahre geübt. Ich erforsche diesen Geist, seit ich in Baton Rouge das Voodoo-Kreuz gefunden habe.«
    Meine Mom knallt die Schubladen zu. Ihre Wangen
sind gerötet, und sie hat feuchte, glänzende Augen. Sie sieht aus, als wollte sie mich gleich erwürgen.
    »Das Wesen hat ihn getötet«, sagt sie. »Es kann auch dich töten.«
    »Danke.« Ich hebe beide Hände. »Danke für diesen Vertrauensbeweis.«
    »Cas …«
    »Warte. Halt den Mund.« Es kommt nicht oft vor, dass ich meiner Mutter sage, sie solle den Mund halten. Ich weiß nicht einmal genau, ob ich es jemals gesagt habe. Aber sie muss jetzt still sein. In meinem Zimmer stimmt etwas nicht. Hier ist etwas, das nicht da sein sollte. Sie folgt meinem Blick, und ich warte ihre Reaktion ab, weil ich nicht der Einzige sein will, der es sieht.
    Mein Bett ist so, wie ich es verlassen habe. Die Bettdecke ist zerknüllt und halb hinuntergezogen. Im Kissen zeichnet sich noch der Abdruck meines Kopfes ab.
    Darunter ragt der geschnitzte Griff des Athames hervor.
    Das ist unmöglich, das kann nicht sein. Das Ding müsste kilometerweit weg in Will Rosenbergs Schrank liegen oder sich in den Händen des Geistes befinden, der ihn ermordet hat. Ich gehe zum Bett und bücke mich danach, und das vertraute Holz schmiegt sich in meine Handfläche. Mir dämmert, was dies zu bedeuten hat.
    »Mom«, flüstere ich, während ich das Messer anstarre. »Wir müssen hier raus.«
    Sie blinzelt nur und steht stocksteif da. In der Stille
ertönt auf einmal ein unschönes Knarren, das ich nicht einordnen kann.
    »Cas«, haucht meine Mom. »Die Bodentreppe.«
    Die Ausziehleiter zum Dachboden. Das Geräusch und Moms Worte lösen etwas in mir aus. Mein Hinterkopf juckt. Meine Mutter hat eine Bemerkung über Waschbären gemacht, und Tybalt wollte dort am Tag unseres Einzugs an mir hochklettern.
    Die Stille ist beängstigend. Sie verstärkt jedes Geräusch. Als ich ein Scharren höre, weiß ich, dass im Flur jemand die Leiter hinablässt.

Ich möchte jetzt gern gehen. Ich möchte unbedingt jetzt gehen. Mir sträuben sich die Nackenhaare, und ich würde mit den Zähnen klappern, wenn ich sie nicht so fest zusammengebissen hätte. Müsste ich mich zwischen Kämpfen oder Fliehen entscheiden, dann würde ich zum Fenster hinausspringen, ob ich nun das Messer in der Hand habe oder nicht. Am Ende drehe ich mich aber nur um, nähere mich meiner Mutter und schiebe mich zwischen sie und die offene Tür.
    Schritte kommen die Leiter herunter. So heftig hat mein Herz noch nie geschlagen. Ich fange den Geruch von süßem Rauch auf. Halte die Stellung, denke ich. Wenn es vorbei ist, kann ich immer noch kotzen. Vorausgesetzt natürlich, ich lebe dann noch.
    Wir hören die Schritte, die unaufhaltsam die Leiter herunterkommen, und machen uns fast in die Hosen. Wir dürfen uns nicht in meinem Zimmer überrumpeln lassen. So schrecklich es auch ist, ich muss mich überwinden und in den Flur treten, damit wir es zur Treppe schaffen, ehe das Etwas, das da im Anmarsch ist, uns den Fluchtweg abschneidet. Ich fasse meine Mom an
der Hand. Sie schüttelt heftig den Kopf, aber ich ziehe sie mit, taste mich weiter zur Tür, den Athame erhoben wie eine Fackel.
    Anna. Anna, komm herein und hilf uns. Anna, komm her und rette uns … Aber das ist dumm. Anna hängt auf der verdammten Veranda fest. Es wäre wirklich absurd, wenn ich hier drin sterbe, in Stücke gerissen und verschlungen wie ein Schnitzel, während sie ohnmächtig draußen steht.
    Na gut. Zwei tiefe Atemzüge, und wir treten aus dem Zimmer. Vielleicht auch drei.
    Als ich in den Flur einbiege, habe ich sofort die Leiter zum Dachboden im Blick und sehe auch das Wesen, das heruntersteigt. Ich will es nicht

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