Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
betrachten. Die lange Ausbildung und die vielen Geister, mein Instinkt und meine Fähigkeiten, alles ist auf einen Schlag zum Teufel. Dort kommt der Mörder meines Vaters. Ich sollte wütend sein und ihn anfallen. Stattdessen habe ich Angst.
Er kehrt mir den Rücken, und die Treppe ist so weit von der Ausziehleiter entfernt, dass wir sie vor ihm erreichen können, wenn wir uns sofort in Bewegung setzen. Immer vorausgesetzt, er dreht sich nicht um und greift an. Warum denke ich das? Er macht keinerlei Anstalten dazu. Als wir zur Treppe schleichen, kommt er unten an und hält inne, um die Leiter mit mehreren Stößen wieder nach oben zu schieben.
Ich bleibe an der Treppe stehen und schiebe meine Mutter vor mir her, damit sie als Erste hinuntergeht. Die Gestalt im Flur hat uns anscheinend immer noch
nicht bemerkt. Der Oberkörper pendelt hin und her, als lausche er einer Totenmusik.
Er trägt eine dunkle, eng sitzende Jacke, die einem Frack ähnelt. Sie ist dunkelblau oder dunkelgrün, ich kann es nicht genau erkennen. Auf dem Kopf hat er ein wirres Gestrüpp verfilzter Dreadlocks. Einige sind halb verwest und fallen ab. Das Gesicht kann ich von hinten nicht erkennen, aber die Hände sind grau und rissig. Zwischen den Fingern dreht er etwas hin und her, das an eine lange schwarze Schlange erinnert.
Ich versetze meiner Mom einen leichten Stoß, damit sie die Treppe hinuntersteigt. Wenn sie nach draußen zu Anna gelangt, ist sie sicher. Ich schöpfe ein wenig Mut, ein Anflug des tapferen alten Cas kehrt zurück.
Als er sich dann umdreht und mich ansieht, wird mir klar, wie groß meine Angst wirklich ist.
Nein, ich muss das anders ausdrücken. Ich kann wirklich nicht sagen, dass er mich anblickt. Es ist nämlich nicht zu erkennen, wohin sich ein Blick richtet, wenn die Augen zugenäht sind.
Ja, sie sind zugenäht, daran besteht kein Zweifel. Mit großen Stichen und schwarzem Faden sind die Augenlider verschlossen worden. Trotzdem besteht kein Zweifel, dass er mich sehen kann. Meine Mom spricht für uns beide, als sie ein verschrecktes »Oh« ausstößt.
»Gern geschehen«, sagt er. Es ist die Stimme aus meinen Albträumen, die so klingt, als kaute jemand rostige Nägel.
»Es gibt nichts, wofür ich dir danken müsste.« Er
legt den Kopf schief, als ich die Worte beinahe ausspeie. Fragen Sie mich nicht warum, aber ich weiß, dass er jetzt den Athame anstarrt. Furchtlos kommt er auf uns zu.
»Vielleicht sollte ich mich dann bei dir bedanken.« Jetzt hört man auch wieder den Südstaatenakzent.
»Was hast du hier zu suchen?«, sage ich. »Wie bist du hergekommen? Wie bist du an der Tür vorbeigekommen?«
»Ich war die ganze Zeit schon hier«, antwortet er. Er hat helle weiße Zähne, sein Mund ist nicht größer als der eines Menschen. Wie kann er so gigantische Bissspuren hinterlassen?
Er lächelt jetzt und reckt das Kinn. Wie die meisten Geister bewegt er sich unbeholfen. Es ist, als seien die Gliedmaßen steif oder die Sehnen verfault. Erst wenn sie zuschlagen, sieht man, was in ihnen steckt. Aber ich falle nicht darauf herein.
»Das ist unmöglich«, erwidere ich. »Der Spruch hätte dir den Zutritt verwehrt.« Es ist doch völlig undenkbar, dass ich die ganze Zeit mit dem Mörder meines Vaters unter einem Dach geschlafen habe. Dass er über mir auf dem Dachboden gelauert und uns beobachtet und belauscht hat.
»Sprüche, um die Toten draußen zu halten, sind wertlos, wenn die Toten schon drin sind«, erwidert er. »Ich komme und gehe, wie es mir beliebt. Ich hole Dinge zurück, die dumme Jungs verlieren. Und danach war ich auf dem Dachboden und habe Katzen gegessen.«
Ich war auf dem Dachboden und habe Katzen gegessen. Ich betrachte die schwarze Schlange, die er zwischen seinen Fingern bewegt, genauer. Es ist Tybalts Schwanz.
»Du verdammter … Du hast meine Katze gefressen!« Danke, Tybalt, für diesen letzten Gefallen, für diesen wütenden Adrenalinstoß. Ein Pochen durchbricht die Stille, die darauf folgt. Anna hat meinen Schrei gehört, trommelt an die Tür und fragt mich, wie es mir geht. Der Geist reißt den Kopf herum wie eine Schlange. Es ist eine unnatürliche, verstörende Bewegung.
Meine Mom versteht nicht, was los ist. Ihr ist nicht klar, dass Anna draußen wartet, und sie klammert sich an mich, weil sie nicht weiß, wovor sie mehr Angst haben muss.
»Cas, was ist das? Wie kommen wir hier raus?«
»Keine Sorge, Mom«, beruhige ich sie. »Hab keine Angst.«
»Das Mädchen, auf das wir
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