Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
umzudrehen, denn ich habe echt schon viel zu viele beängstigende Dinge erlebt, als dass ich mich von menschlichen Angreifern beeindrucken lassen würde. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, dass ich einfach nur paranoid bin. Im Grunde glaube ich das aber nicht. Es ist jemand hinter mir her, und es ist jemand, der noch atmet. Das beunruhigt mich. Die Toten haben einfache, durchschaubare Motive. Hass, Schmerz, Verwirrung. Sie töten, weil es das Einzige ist, was sie noch tun können. Die Lebenden hingegen haben kompliziertere Bedürfnisse, und wer immer mir da gerade folgt, hat es in irgendeiner Form auf mich abgesehen. Das macht mich nervös.
Störrisch starre ich nach vorn, bleibe an jeder Kreuzung absichtlich lange stehen und warte, bis es grün
wird. Dabei denke ich daran, was für ein Idiot ich doch war, weil ich darauf verzichtet habe, ein Auto zu kaufen, und frage mich, wo ich ein paar Stunden herumhängen kann, um mich zu sammeln und den Verfolger abzuschütteln. Ich bleibe stehen, nehme den Lederrucksack ab und wühle darin herum, bis ich die Scheide mit dem Athame berühre. Ich bin tierisch genervt.
Ich komme am Friedhof vorbei. Es ist einer von diesen traurigen, presbyterianischen, und er ist nicht sehr gut in Schuss. Auf den Gräbern stehen welke Blumen, deren schmutzige Schleifen der Wind zerfetzt hat. Ein Grabstein ist sogar umgestürzt, genauso tot umgefallen wie der Mensch, der darunterliegt. Es ist ein trauriger Anblick, aber wenigstens ist der Friedhof ruhig, und er verändert sich nie. Das beruhigt mich ein wenig. In der Mitte steht eine Frau, eine alte Witwe, und starrt den Grabstein ihres Mannes an. Der Wollmantel hängt unbequem auf ihren Schultern, und sie hat sich ein dünnes Tuch um den Hals gebunden. Der Gedanke an meinen Verfolger beschäftigt mich so sehr, dass ich eine Weile brauche, um mich zu wundern, dass sie im August einen Wollmantel trägt.
Ich räuspere mich. Sie dreht den Kopf herum, als sie es hört, und ich kann sogar von hier aus erkennen, dass sie keine Augen hat. Nur zwei graue Steine, wo die Augen waren. Dennoch starren wir einander unverwandt an. Die Falten auf ihren Wangen sind so tief, als hätte jemand sie mit einem schwarzen Filzstift gezeichnet. Es muss da eine Geschichte geben. Eine
verstörende Geschichte von einem Kummer, der ihr diese Augen aus Stein eingesetzt hat und sie zwingt, immer wieder herzukommen und das anzustarren, was ich inzwischen eher für ihr eigenes Grab halte. Doch momentan werde ich verfolgt und habe keine Zeit für diese Gedanken.
Ich öffne den Rucksack und ziehe das Messer am Griff heraus, bis die Klinge im Licht blitzt. Die alte Frau fletscht die Zähne und faucht lautlos. Dann weicht sie zurück und versinkt langsam im Boden. Es sieht so ähnlich aus wie wenn jemand auf einer Rolltreppe nach unten fährt. Ich habe keine Angst, sondern bin eher peinlich berührt, weil ich so lange gebraucht habe, um zu erkennen, dass sie tot ist. Wäre sie nahe genug gekommen, wäre ich vielleicht erschrocken, aber sie ist nicht die Art Gespenst, die tötet. Andere Passanten hätten sie wohl nicht einmal bemerkt, aber ich habe eben einen sechsten Sinn für diese Dinge.
»Ich auch.«
Ich zucke zusammen, als ich direkt neben mir die Stimme höre. Der Typ steht schon wer weiß wie lange dort. Er hat zottelige schwarze Haare und trägt eine Brille mit schwarzem Rahmen. Ein dürrer, schlaksiger Bursche mit Klamotten, die ihm nicht ganz passen. Ich habe das Gefühl, ihn aus der Schule zu kennen. Er nickt in die Richtung des Friedhofs.
»Die alte Dame kann einem Angst machen, was? Aber keine Sorge, sie ist harmlos. Sie ist mindestens dreimal die Woche hier. Und ich kann nur Gedanken
lesen, wenn jemand wirklich angestrengt über etwas nachdenkt.« Er grinst schief. »Allerdings habe ich den Eindruck, dass du immer angestrengt nachdenkst.«
Ich höre ein dumpfes Geräusch und bemerke, dass mir der Athame aus der Hand geglitten ist. Das Geräusch ist beim Aufprall auf den Boden meines Rucksacks entstanden. Der Junge ist mir offensichtlich gefolgt, und ich bin erleichtert, dass ich recht behalten habe. Andererseits finde ich die Vorstellung, dass er telepathisch begabt ist, mehr als beunruhigend.
Ich hatte schon öfter mit Telepathen zu tun. Einige Freunde meines Vaters besaßen diese Fähigkeit in unterschiedlicher Ausprägung. Dad sagte immer, es sei nützlich, aber ich finde es vor allem unheimlich. Als ich das erste Mal seinem Freund Jackson begegnet
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