Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
und straff auf den Knochen liegt.
Es ist, als hätte ich ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst. Er fährt mit dem Kopf zurück, Schweißperlen entstehen auf der Stirn und der Oberlippe. Er schluckt, der Adamsapfel ruckt auf und ab. Es sieht aus, als wollte er sein Sushi wieder ausspucken.
Er protestiert nicht, als ich um die Rechnung bitte.
Ich lasse mich von Thomas nach Hause bringen. Nachdem ich ihn derart angefahren habe, ist er mir kaum noch auf die Nerven gegangen. Als ich die Treppe zur Veranda hinaufsteige, kurbelt er das Fenster herunter und fragt mich unsicher, ob ich auch zur »Ende der Welt«-Party gehen will. Ich antworte nicht. Es hat ihn ziemlich erschüttert, die Toten zu sehen. Inzwischen glaube ich, dass er ziemlich einsam ist, und ich will ihm nicht noch einmal sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Außerdem müsste er doch eigentlich gar nicht fragen, wenn er wirklich ein so gutes Medium ist.
Drinnen lege ich den Rucksack auf den Küchentisch. Meine Mom sitzt dort und schnippelt Kräuter, entweder für das Abendessen oder für einen ihrer vielen Zaubersprüche. Ich entdecke Erdbeeren und Zimt. Also ein Liebeszauber oder eine Torte. Mein Magen bricht aus und tippt mir auf die Schulter. Ich gehe zum Kühlschrank, um mir ein Sandwich zu machen.
»Hallo. Abendessen gibt es in einer Stunde.«
»Ich weiß, aber ich habe jetzt Hunger. Ich bin in der Wachstumsphase.« Ich hole Mayonnaise, Colby-Jack-Käse
und Fleischwurst aus dem Kühlschrank. Als ich nach dem Brot greife, überlege ich, was ich für heute Abend alles vorbereiten muss. Der Athame ist sauber, aber das spielt eigentlich keine große Rolle. Ich rechne nicht damit, irgendwelchen Toten zu begegnen, ganz egal, was die Gerüchte in der Schule auch besagen. Ich habe noch nie von einem Geist gehört, der eine Gruppe von mehr als zehn Menschen angegriffen hätte. So was passiert nur in Horrorfilmen.
Heute Abend will ich dazugehören. Ich will Annas Geschichte hören und die Leute finden, die mich zu ihr führen können. Das Gänseblümchen hat mir ihren Nachnamen und ihr Alter verraten, hatte aber keine Ahnung, wo sie umgeht. Er wusste nur, dass es das Haus ihrer Familie ist. Natürlich könnte ich in der Stadtbücherei nachsehen, wo die Korlovs gewohnt haben. Über ein Ereignis wie Annas Ermordung haben die Zeitungen bestimmt berichtet. Aber das würde doch keinen Spaß machen. Dies ist für mich der schönste Teil der Jagd: Wenn ich sie kennenlerne und die Geschichten höre. Sie sollen in meinem Kopf so groß werden, wie sie nur können, und wenn ich sie sehe, will ich nicht enttäuscht werden.
»Wie war dein Tag, Mom?«
»Gut«, sagt sie und beugt sich über das Hackbrett. »Ich muss einen Kammerjäger rufen. Als ich eine Kiste mit Tupperdosen auf dem Dachboden verstauen wollte, habe ich hinter der Wandverkleidung den Schwanz einer Ratte verschwinden sehen.« Sie schaudert und macht mit der Zunge ein angewidertes Geräusch.
»Warum lässt du nicht Tybalt da rauf? Dazu sind Katzen doch da, schon mal davon gehört? Sie sollen Ratten und Mäuse fangen.«
Sie schneidet eine entsetzte Grimasse. »Igitt. Ich will nicht, dass er Würmer bekommt, wenn er auf einer dreckigen Ratte herumkaut. Ich rufe lieber einen Kammerjäger. Es sei denn, du möchtest selbst hinaufgehen und ein paar Fallen aufstellen?«
»Klar«, antworte ich. »Aber nicht heute Abend. Ich habe eine Verabredung.«
»Ein Date? Mit wem denn?«
»Carmel Jones.« Ich zucke lächelnd mit den Achseln. »Es ist wegen des Jobs. Heute Abend ist in dem Park am Wasserfall eine Party, und dort müsste ich ein paar brauchbare Informationen bekommen.«
Meine Mutter seufzt und schnippelt weiter. »Ist sie nett?«
Wie üblich konzentriert sie sich auf den falschen Aspekt der Neuigkeiten.
»Es gefällt mir nicht, wenn du die Mädchen immer nur für deine Zwecke ausnutzt«, fährt sie fort.
Ich lache und setze mich neben ihr auf die Anrichte, um eine Erdbeere zu stibitzen. »Das klingt so schmutzig, wenn du es auf diese Weise ausdrückst.«
»Auch wenn es für einen guten Zweck ist, du benutzt sie trotzdem.«
»Ich habe aber noch keine Herzen gebrochen, Mom.«
Sie schnalzt mit der Zunge. »Du warst auch noch nicht richtig verliebt, Cas.«
Eine Unterhaltung mit meiner Mutter über die Liebe ist noch schlimmer als ein Gespräch über Bienchen und Blümchen. Deshalb murmele ich etwas in mein Sandwich hinein und verschwinde aus der Küche. Diese Anspielungen, ich könnte jemanden
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