Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
verschwunden. Es hat sich aufgerichtet und ist auf den Hinterbeinen in den Wald gelaufen.«
Ich muss lachen, worauf sie mir einen Schlag auf den Arm versetzt. »Ich bin nicht gut im Geschichtenerzählen«, gibt sie zu und hat Mühe, ihr eigenes Lachen zu unterdrücken. »Mike kann das besser.«
»Ja, wahrscheinlich benutzt er mehr Flüche und gestikuliert dabei wild herum.«
»Carmel.«
Ich drehe mich um, und da steht schon wieder Mike, eingerahmt von Chase und Will. Er speit ihren Namen förmlich aus wie einen klebrigen Papierfetzen. Seltsam, was man alles bewirken kann, wenn man nur einen Namen ausspricht.
»Was ist so komisch?«, fragt Chase. Er drückt seine Zigarette auf dem Geländer aus und schiebt den Stummel in die Schachtel zurück. Ich finde das widerlich, obwohl mich sein Umweltbewusstsein beeindruckt.
»Nichts«, antworte ich. »Carmel hat die letzten zwanzig Minuten damit verbracht, mir zu erzählen, wie ihr im letzten Jahr Bigfoot begegnet seid.«
Mike lächelt. Irgendetwas hat sich verändert. Es wirkt seltsam auf mich, und meiner Ansicht nach liegt
es nicht nur daran, dass sie alle betrunken sind. »Die Geschichte ist wahr«, bekräftigt er. Da dämmert mir, was sich verändert hat. Er ist plötzlich freundlich zu mir und sieht tatsächlich mich an und nicht Carmel. Keine Sekunde halte ich das für echt. Er versucht nur etwas Neues. Er hat etwas vor, besser gesagt, er will mir eins auswischen.
Ich höre zu, wie Mike die Geschichte, die Carmel gerade erzählt hat, noch einmal erzählt, nur eben wild gestikulierend und mit mehr Flüchen. Überraschenderweise sind die Versionen einander sehr ähnlich. Ich weiß allerdings nicht, ob das bedeutet, dass es sich genauso zugetragen hat, oder ob sie beide die Geschichte nur oft genug erzählt haben, um sich einander anzugleichen. Als er fertig ist, schwankt er leicht und starrt ins Leere.
»Dann magst du also Gespenstergeschichten?«, fragt Will Rosenberg, um die Gesprächspause zu überbrücken.
»Sehr sogar.« Ich richte mich ein wenig auf. Vom Wasser wehen aus allen Richtungen feuchte Dunstschleier herauf, und mein schwarzes T-Shirt klebt auf der Haut. Mir wird kalt. »Wenigstens dann, wenn sie nicht mit einem katzenähnlichen Yeti enden, der die Straße überquert, ohne jemanden anzugreifen.«
Will lacht. »Ich weiß. Die Geschichte sollte mit einem Knalleffekt enden, nach dem Motto: ›So eine kleine Muschi hat noch niemandem wehgetan.‹ Ich sag ihnen immer, sie sollen die Geschichte so abschließen, aber auf mich hört ja keiner.«
Ich lache mit den anderen. Carmel murmelt etwas, wie widerlich sie das fände. Na gut. Ich mag Will Rosenberg, weil er tatsächlich etwas Hirn im Kopf hat. Damit ist er natürlich auch der Gefährlichste der drei. An der Art und Weise, wie Mike herumzappelt, erkenne ich, dass er auf Will wartet, der offenbar irgendetwas in Gang bringen soll. Aus reiner Neugierde beschließe ich, es ihm leicht zu machen.
»Kennst du denn bessere Geschichten?«, frage ich.
»Ich kenne ein paar«, sagt er.
»Ich habe von Natalie gehört, deine Mom sei eine Art Hexe«, unterbricht Chase. »Stimmt das?«
»Ja, das stimmt.« Ich zucke mit den Achseln. »Sie ist Wahrsagerin«, erkläre ich Carmel. »Sie verkauft Kerzen und solche Sachen im Internet. Du würdest nicht glauben, wie viel Geld man damit verdienen kann.«
»Cool.« Carmel lächelt. »Vielleicht kann sie mir auch mal die Karten legen oder so.«
»Oh Gott«, stöhnt Mike. »Das hat die Stadt gerade noch gebraucht. Noch so eine Verrückte. Wenn deine Mom eine Hexe ist, wer bist du dann? Harry Potter?«
»Mike«, sagt Carmel. »Sei nicht so ein Idiot.«
»Das ist aber viel verlangt«, werfe ich leise ein. Mike ignoriert die Bemerkung und fragt Carmel, warum sie sich mit so einem Freak herumtreibt. Es ist ungemein schmeichelhaft. Carmel wird nervös, als fürchte sie, Mike könne die Nerven verlieren und mich über das Holzgeländer prügeln, damit ich hinab ins flache Wasser falle. Ich spähe über das Geländer. Im Dunkeln kann ich nicht erkennen, wie tief es ist, aber
vermutlich reicht es nicht aus, um den Sturz zu bremsen. Wahrscheinlich würde ich mir auf einem Felsen das Genick brechen oder so. Ich bemühe mich, ruhig und gefasst zu bleiben und schiebe die Hände in die Hosentaschen. Gleichzeitig hoffe ich, dass meine Gleichgültigkeit ihn verrückt macht, weil die Kommentare über meine Mutter und dass ich eine Art verweichlichtes Magiersöhnchen sei, mich wütend
Weitere Kostenlose Bücher