Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
verletzen, behagen mir überhaupt nicht. Meint sie denn, ich sei nicht vorsichtig genug? Weiß sie nicht, wie sehr ich mich bemühe, die Leute auf Abstand zu halten?
Ich kaue eifrig und rege mich wieder ab. Sie ist eben einfach nur meine Mutter. Auch wenn sie sich vielleicht mal fragen sollte, warum ich in all den Jahren noch nie Freunde nach Hause eingeladen habe.
Jetzt ist allerdings nicht der Augenblick, über so etwas nachzudenken. Solche Komplikationen kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich bin sicher, dass es irgendwann einfach passieren wird. Oder vielleicht besser nicht. Ich will da niemanden mit hineinziehen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeit irgendwann einmal abgeschlossen ist. Es gibt viel zu viele wandelnde Tote, die lebende Menschen umbringen.
Carmel holt mich um kurz nach neun ab. Sie sieht toll aus mit ihrem rosa Trägertop und dem kurzen, khakifarbenen Rock. Das blonde Haar fällt frei den Rücken hinab. Ich sollte lächeln. Ich sollte etwas Nettes sagen, aber ich halte mich zurück. Die Predigt meiner Mutter behindert mich bei der Arbeit.
Carmel fährt einen silbernen Audi, der schon ein paar Jahre alt ist. Wir sausen an seltsamen Schildern vorbei. Einige sehen aus wie Charlie Browns T-Shirt,
während andere uns vor Elchen warnen, die jederzeit das Auto angreifen könnten. Es ist schon fast dunkel, das Licht färbt sich orange. Die Luftfeuchtigkeit lässt nach, und der Fahrtwind drückt sich mir fest wie eine Hand gegen das Gesicht. Am liebsten würde ich den ganzen Kopf aus dem Fenster halten wie ein Hund. Als wir die Stadt verlassen, spitze ich die Ohren und lausche, ob Anna irgendwie spürt, dass ich mich entferne.
Ich erkenne sie in dem Durcheinander von hundert anderen Gespenstern. Einige sind nur rastlose, harmlose Geister, andere sind voller Zorn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, tot zu sein. Eigentlich ist das seltsam, weil ich schon so vielen Geistern begegnet bin. Doch es ist mir immer noch ein Rätsel. Ich begreife nicht, warum manche Gespenster nach dem Tod bleiben und andere nicht. Ich frage mich, wo die sind, die fortgehen, und ob diejenigen, die ich töte, an demselben Ort landen.
Carmel erkundigt sich nach meinen Kursen und nach meiner alten Schule. Ich gebe ein paar unverbindliche Antworten. Wir fahren jetzt durch eine ländliche Gegend und passieren einen Ort, in dem die Hälfte der Gebäude verfallen oder schon zusammengebrochen ist. Auf einigen Höfen stehen noch alte, verrostete Autos. Der Anblick erinnert mich an andere Orte, die ich aufgesucht habe, und dabei geht mir durch den Kopf, dass ich schon viel zu viel gesehen habe. Vielleicht gibt es überhaupt nichts Neues mehr für mich.
»Trinkst du Alkohol?«, fragt Carmel.
»Ja, schon.« Eigentlich stimmt es nicht. Irgendwie habe ich mich nie richtig daran gewöhnt.
»Cool. Es gibt natürlich Flaschen, aber normalerweise kommt auch jemand mit einem Truck und bringt ein Fass mit.« Sie schaltet den Blinker ein und biegt in den Park ein. Irgendwo hinter den Bäumen höre ich das dumpfe Rauschen des Wasserfalls. Die Fahrt ging schnell, ich habe kaum auf die Umgebung geachtet, sondern ständig an die Toten gedacht. Vor allem an ein ganz bestimmtes, totes Mädchen in einem wunderschönen Kleid, das ihr eigenes Blut rot gefärbt hat.
Die Party verläuft so, wie Partys eben verlaufen. Ich werde einer Vielzahl von Gesichtern vorgestellt, die ich später nicht mehr mit den Namen in Verbindung bringen kann. Die Mädchen kichern ständig und versuchen, die anderen zu beeindrucken. Die Jungs haben die Großhirne in den Autos gelassen und sich zusammengerottet. Ich habe zwei Bier getrunken, an dem dritten halte ich mich seit fast einer Stunde fest. Es ist ziemlich langweilig.
Das Ende der Welt ist eigentlich gar nicht so schlimm, solange man sich nicht hineinstürzt. Wir haben uns am Wasserfall versammelt, und die Leute starren in die schmutzigbraunen Fluten, die sich über schwarze Felsen ergießen. Eigentlich ist es gar nicht so viel Wasser. Irgendjemand hat gesagt, es sei ein trockener Sommer gewesen. Trotzdem, der Fluss hat eine beeindruckende Schlucht mit steilen Flanken in den Stein
gefressen. Mitten im Wasserfall erhebt sich eine Felsformation, auf die ich gern klettern würde, wenn ich bessere Schuhe hätte.
Ich will unter vier Augen mit Carmel reden, aber seit wir angekommen sind, funkt Mike Andover bei jeder passenden Gelegenheit dazwischen und starrt mich an, als wollte er mich
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