Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
Vom Netzwerk:
hypnotisieren. Jedes Mal, wenn Carmel ihn abgeschüttelt hat, tauchen ihre Freundinnen Natalie und Katie auf und werfen mir erwartungsvolle Blicke zu. Ich bin nicht einmal sicher, welche der beiden welchen Namen trägt. Sie sind beide brünett und sehen einander sehr ähnlich, bis hin zu den gleichfarbigen Haarclips. Ich lächle ständig und verspüre einen seltsamen Drang, witzig und klug rüberzukommen. Dabei baut sich ein Druck in mir auf, bis mir die Schläfen pochen. Jedes Mal, wenn ich etwas sage, bitten sie einander mit einem Blick um Erlaubnis, ob sie lachen dürfen, kichern und sehen mich wieder an, um auf das nächste Bonmot zu warten. Mein Gott, sind die lebenden Leute nervig.
    Irgendwann kotzt ein Mädchen namens Wendy über das Geländer. Die Ablenkung reicht aus. Ich fasse Carmel am Arm und entferne mich mit ihr über den hölzernen Gehweg. Eigentlich will ich ganz bis zur anderen Seite, aber als wir in der Mitte des Wasserfalls nach unten starren, bleibt sie stehen.
    »Hast du Spaß?«, fragt sie, worauf ich nicke. »Alle mögen dich.«
    Ich habe keine Ahnung warum, denn ich habe überhaupt nichts Interessantes beigesteuert und finde sowieso,
dass an mir nichts Besonderes ist, wenn man von der einen Sache absieht, über die ich nicht rede.
    »Vielleicht mögen mich die anderen auch nur, weil sie dich mögen«, erwidere ich etwas spitz. Ich rechne damit, dass sie mich auslacht oder eine Bemerkung über Schmeicheleien macht, aber das tut sie nicht. Sie nickt nur wortlos, als hätte ich damit recht. Sie ist klug und sich ihrer Stellung bewusst. Ich frage mich, wie sie jemals auf die Idee kommen konnte, mit jemandem wie Mike auszugehen. Mit jemandem aus der Trojanerarmee.
    Der Gedanke an die Armee erinnert mich wiederum an Thomas Sabin. Ich habe damit gerechnet, dass er auch hier ist, zwischen den Bäumen herumlungert und alle meine Bewegungen verfolgt wie ein liebeskranker … na ja, wie ein liebeskranker Schuljunge eben. Allerdings habe ich ihn nicht gesehen, und nach den öden Unterhaltungen des Abends bedaure ich das beinahe.
    »Du wolltest mir etwas über Gespenster erzählen«, sage ich. Carmel stutzt und lächelt auf einmal.
    »Richtig.« Sie räuspert sich, holt etwas aus und schildert mir die äußeren Gegebenheiten der letztjährigen Party: wer dabei war, was sie getan haben, warum sie mit diesem oder jenem Begleiter erschienen sind. Sie will für mich ein umfassendes, realistisches Bild zeichnen. Manche Leute brauchen das wohl. Ich persönlich reime mir die Einzelheiten lieber selbst zusammen und konstruiere mir eine eigene Geschichte. Wahrscheinlich wird das Ganze so viel interessanter, als es tatsächlich war.
    Endlich erzählt sie dann, wie es dunkel wurde. Dunkelheit und überall berauschte, unberechenbare Jugendliche. Ich höre Gespenstergeschichten aus dritter Hand, die an diesem Abend erzählt wurden. Es geht um Schwimmer und Wanderer, die am Trowbridge-Wasserfall gestorben sind, wo die Party in jenem Jahr stattfand. Die Toten sorgten angeblich dafür, dass die Lebenden ähnliche Unfälle erlitten wie sie selbst. Mehr als ein Opfer habe von unsichtbarer Hand einen Stoß in den Rücken bekommen und sei die Klippe hinabgestürzt, oder ein Geist habe die Ahnungslosen in die Strömung des Flusses gezerrt. An dieser Stelle spitze ich die Ohren, denn soweit ich die Gespenster kenne, kommt so etwas tatsächlich vor. Meist versuchen sie, anderen die Gemeinheiten anzutun, die sie selbst erlitten haben. Denken Sie nur mal an den Anhalter.
    »Dann sind Tony Gibney und Susanna Norman schreiend einen Weg heruntergekommen. Irgendetwas hätte sie beim Fummeln angegriffen.« Carmel schüttelt den Kopf. »Es war schon spät, und viele von uns hatten wirklich große Angst. Deshalb sind wir in die Autos gestiegen und weggefahren. Ich bin mit Mike und Chase gefahren, Will saß am Steuer. Als wir den Park verließen, ist vor uns etwas auf die Straße gesprungen. Ich weiß nicht, woher es gekommen ist, ob es den Hügel hinuntergelaufen ist oder auf einem Baum gehockt hatte. Es sah jedenfalls aus wie ein großer, zotteliger Puma oder so. Na ja, Will ist auf die Bremse gestiegen, und das Vieh stand einen Moment
vor uns. Ich dachte, es wollte auf die Kühlerhaube springen, und ich schwöre dir, ich war drauf und dran, schrecklich zu kreischen. Aber es bleckte nur die Zähne und fauchte, und dann …«
    »Und dann?«, hake ich sofort nach, weil sie das von mir erwartet.
    »Dann ist es aus dem Scheinwerferkegel

Weitere Kostenlose Bücher