Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
meiner Schultern ist, dann drehe ich mich auch. Auf gar keinen Fall lasse ich sie in meinen Rücken gelangen. So süß und unschuldig sie jetzt auch tut, ich kenne das Wesen, das jederzeit hervorbrechen kann, wenn es nur die richtige Gelegenheit bekommt.
»Das hat schon jemand getan«, erkläre ich. Die lächerlichen Geschichten, dass ich sie befreien will, schenke ich mir. Das wäre ein Taschenspielertrick, um sie in Sicherheit zu wiegen, bis sie von selbst in die Falle tappt. Außerdem wäre es eine Lüge. Ich habe keine Ahnung, wohin ich die Geister schicke, und es ist mir auch egal. Hauptsache weit weg von diesem Haus, wo sie Menschen umbringt und einsperrt.
»Ja, jemand hat mich getötet«, bestätigt sie. Dabei
dreht sie den Kopf einmal ganz herum und bewegt ihn vor und zurück. Einen Moment lang wallt ihr Haar wie ein Knäuel lebender Schlangen. »Aber du kannst es nicht.«
Sie weiß, dass sie tot ist. Das ist interessant. Die meisten wissen es nämlich nicht. Die meisten sind nur wütend und verängstigt, sie sind mehr ein vages Gefühl, eine Erinnerung an einen schrecklichen Augenblick, als ein reales Wesen. Mit manchen kann man reden, aber normalerweise halten sie mich für jemand anders, für einen Menschen aus ihrer Vergangenheit. Die Klarheit des Mädchens bringt mich vorübergehend aus der Fassung. Ich rede drauflos, um Zeit zu gewinnen.
»Schätzchen, mein Vater und ich haben mehr Gespenster erledigt, als du zählen kannst.«
»Aber noch nie eines wie mich.«
Ihr Unterton verrät mir, dass es kein Stolz ist, aber etwas sehr Ähnliches. Eine Mischung aus Stolz und Verbitterung. Ich warte ab, weil ich ihr nicht verraten will, dass sie recht hat. Anna ist wirklich anders als alle Erscheinungen, die ich bisher gesehen habe. Sie scheint unbegrenzte Kräfte zu besitzen und kennt eine Menge Tricks. Sie ist kein schlurfendes Phantom, das wütend ist, weil es erschossen wurde. Sie ist der Tod selbst, grässlich und gefühllos, und obwohl sie in Blut gekleidet und von dunklen Adern überzogen ist, starre ich sie unverwandt an.
Aber ich habe keine Angst. So stark sie auch ist, ich brauche nur einen einzigen guten Streich. Mein
Athame kann sie verletzen, und wenn ich ihr nahe genug komme, verblutet sie und löst sich im Äther auf wie alle anderen.
»Vielleicht solltest du deinen Vater zu Hilfe rufen«, schlägt sie vor. Ich packe die Klinge fester.
»Mein Vater ist tot.«
Etwas geschieht mit ihren Augen. Ich kann nicht glauben, dass es Bedauern oder Verlegenheit ist, aber so kommt es mir vor.
»Mein Vater ist gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war«, sagt sie leise. »In einem Sturm auf dem See.«
So kann ich sie nicht weitermachen lassen. Mein Herz wird weich, der Ingrimm verschwindet, obwohl ich genau weiß, dass ich nicht nachgeben darf. Ihre Stärke macht ihre Verletzlichkeit umso berührender. Eigentlich sollte ich über diesen Dingen stehen.
»Anna«, sage ich, und nun blickt sie mich wieder voll an. Ich hebe die Klinge, die sich in ihren Augen spiegelt.
»Geh«, befiehlt mir die Königin dieses dunklen Schlosses. »Ich will dich nicht töten. Und es scheint so, als müsste ich es aus irgendeinem Grund auch nicht tun. Also geh.«
Das wirft eine Unmenge von Fragen auf, aber ich bleibe stur. »Ich gehe erst, wenn du aus diesem Haus verschwunden und wieder unter der Erde versunken bist.«
»Ich war nie unter der Erde«, faucht sie und zeigt mir die Zähne. Ihre Pupillen werden dunkler, die Schwärze
wirbelt herum und weitet sich aus, bis nichts Weißes mehr zu sehen ist. Schwarze Adern kriechen ihre Wangen hinauf und erreichen die Schläfen und die Kehle. Blut quillt aus ihrer Haut und rinnt am Körper hinab, tropft auf den Boden.
Ich stoße mit dem Messer zu und berühre etwas Hartes, dann schleudert sie mich gegen die Wand. Verdammt. Ich habe nicht einmal gesehen, dass sie sich bewegt hat. Sie wartet in der Mitte des Raumes, wo ich gerade noch gestanden habe. Vom Aufprall gegen die Wand tut mir der Arm weh. Aber ich kann ziemlich hartnäckig sein, also rappele ich mich wieder auf und gehe noch einmal auf sie los, niedriger dieses Mal. Ich will sie nicht einmal töten, sondern nur irgendwo treffen. Die Haare würden mir schon reichen.
Schon fliege ich wieder durch den Raum. Ich rutsche auf dem Rücken über den Boden und merke, wie sich Splitter in meine Hose bohren. Anna wartet weiter ab und betrachtet mich mit zunehmendem Groll. Die Tropfen, die von ihrem Kleid auf die
Weitere Kostenlose Bücher